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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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von seiner Macht entbunden und herumgestoßen zu werden, und wie es ihn demütigte, daß öffentlich demonstriert wurde, daß es jemanden gab, der ihm befahl, und daß er also nicht der wahre Anführer der Gruppe war.
    »Es sieht so aus, als müßten wir uns vor Eurer Grausamkeit beugen wie einst vor der Macht der Perjins«, sprach Ishajid den Bruder direkt an. Sie gab eine überzeugende Darstellung geschlagener Unterwürfigkeit, die ihr auch Scheïjian geglaubt hätte, wäre er nicht selbst Maraskaner gewesen. Denn drei Perjins hatte seine Heimat als Könige gekannt, und alle drei waren sogenannten Speiseunglücken zum Opfer gefallen: Der erste verstarb an einem schlecht zubereiteten Kugelfisch, der nächste stürzte versehentlich in sein Eßbesteck, der letzte erstickte an einem Stück Apfel. So, wie sie hintereinander innerhalb von nur sieben Jahren zu Tode gekommen waren, hatte es später niemand mehr gewagt, unter diesem unheilvollen Namen den Thron der Insel zu besteigen. Die Perjiniden waren wahrhaftig kein Beispiel unüberwindlicher Herrscher! Scheïjian verstand, was ihm Ishajid damit sagen wollte: Ich werde eine Weile mitspielen, bis sie uns alles erzählt haben; später töten wir sie allesamt.
    Die Pläne ihres Gefährten unterschieden sich damit nicht wesentlich von ihren, Scheïjian hätte es allerdings vorgezogen, zuerst die Freiheit wiederzuerlangen. Auch wenn man den Vermummten nicht mitrechnete, so blieben immerhin noch sechs Bewaffnete übrig. Ishajids Zuversicht erschien ihm etwas überheblich.
    Umständlich entfaltete Tommelian einen säuberlich beschriebenen Zettel. Ohne davon aufzublicken, sagte er leise: »Du, Frau, Geweihte – oder was du bist. Ich werde dir Fragen stellen, die du beantworten mußt. Du wirst mich nicht anlügen, da ich einige der Antworten kenne. Du hast gehört, was mein Bruder gesagt hat, vergiß es nicht.« Es klang wie eine Bitte. »Zuerst: Was hat es mit diesen Schrecken auf sich, die ihr erwartet?«
    »Das wissen wir nicht«, log Ishajid.
    »Aber sie kommen?«
    »Ganz bestimmt.«
    Er blickte angestrengt auf sein Papier. »Was heißt Rurech?«
    »Das ist ein Name«, antwortete Ishajid bereitwillig.
    »Wessen Name?«
    »Der Name von jemandem, der schon lange tot ist. Er war der Führer seines Volkes.«
    »Wie lange tot?« mischte sich Tommelians Bruder ein.
    »Lange bevor der Stamm der Beni Rurech, der Kinder Rurechs, nach Maraskan kam. Vielleicht tausend Jahre, vielleicht noch länger.«
    »Das ist lange«, stimmte der Vermummte zu.
    »Soll ich weitermachen?« fragte Tommelian und las nach einem bestätigenden Nicken des Bruders mühsam vom Papier ab. Hätten Scheïjian und Ishajid nicht schon in Salza erfahren, daß er auf Xanjidas halb urtulamidischen halb bosparanischen Begriff für ›einundvierzig‹ hinauswollte, so hätten sie es wegen seines Gestammels nicht herausbekommen.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete die Priesterin.
    »Es klingt nach Bosparano. Lernt ihr Geweihten das nicht?« warf der Vermummte ein.
    »Nicht auf Maraskan«, entgegnete Ishajid. »Ich bin eine Wanderpriesterin der Zwillinge und muß wissen, was den Bauern nutzt. Kein Bauer kümmert sich um Bosparano.«
    Er gab sich damit zufrieden. Tommelian verschandelte das nächste Wort, das in fast reinem Urtulamidisch ›Nest‹ bedeutete.
    Sein Bruder wiederholte das Wort ungeduldig, sprach es dabei so aus, wie es Xanjida getan hätte und wie er es nur aus ihrem Mund gehört haben konnte. »Nun, kennst du das auch nicht?« sprach er Ishajid auf ihr Schweigen an. »Auch wenn deine Bauern es nicht brauchen, es klingt tulamidisch. Wenn euer Lehrer vor tausend Jahren starb, dann müßt ihr diese Sprache einst gesprochen haben, eure Schriften müssen darin abgefaßt sein! Laß ihr das Bein zerschießen, Tommelian!«
    »Bruder, so hat es keinen Wert! Wir wissen doch, was die Worte heißen!« rief jener erregt. »Warum soll ich etwas daherstammeln, das ich selbst nicht verstehe? Warum sagen wir ihr den Vers nicht einfach, damit sie uns den Sinn erklärt?«
    »Weil sie uns belügen wird! Laß auf sie schießen!«
    »Nest«, zischte Ishajid und rettete damit ein letztes Mal ihre Haut.
    »Da siehst du’s, sie sagt’s doch!« knurrte Tommelian.
    »Ich werde es euch übersetzen«, lenkte die Priesterin ein.
    Binnen einer halben Stunde übertrug sie die Worte von Xanjidas künstlicher Sprache in verständliches Garethi. Sie lauteten:
    In seinem einundvierzigsten Jahr war Rurech besessen vor Gram, denn

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