Treibgut - 11
gleiten ließ. Gewandt schlüpfte er in die Hütte hinein.
Sie war zwar nicht höher, aber weiter als jene, welche Liva bewohnt hatte. Vor dem Bett des Bonzen blieb er stehen. Kalt schaute er hinunter auf das entspannte Gesicht, verfolgte die Bewegungen von Nestorios Brust, die sich im gleichmäßigen Rhythmus seines Atems hob und senkte. Liva hätte ihn gern geweckt, aber er hatte anderes mit ihm vor. Entschlossen krallte sich seine Hand in den verbliebenen Teil der Pagenuniform und preßte sie zusammen, bis Blut heraus und auf den Boden tropfte. Achtlos ließ er das Kleidungsstück fallen und schmierte mit blutiger Hand die Worte an die Wand: ›Lerne rückwärts zu zählen, Nestorio!‹
Liva nahm nicht an, daß der Bonze die Inschrift lesen konnte, doch man würde sie ihm erklären. Und wenn nicht, so würde er diese Botschaft zumindest weit genug verstehen, um zu erkennen, wie dicht er in dieser Nacht vor der Pforte zu Borons Hallen gestanden hatte. Es war Zeit zu gehen.
»Was tust du da, Liva?« fragte eine Stimme unter den Arkaden. Er versteckte den Dolch hinter dem Rücken und trat zu der Steinbank, auf der Querinia saß. Aus dem verbliebenen Auge schaute sie zu ihm hoch. Ihr Blick war matt, der Verband auf ihrem Gesicht war scheckig von durchgesickertem Blut. So, wie sie aussah, würde sie Shalimas Schicksal bald teilen.
»Was tust du da, Liva?« wiederholte Querinia.
»Steh auf und komm mit!« entgegnete der Mann vor ihr heiser.
Sie erhob sich schwankend. »Wohin, Liva?«
Er flüsterte: »Der Herr hat mir aufgetragen, dich zu einem Heiler zu bringen. Komm mit.«
Sie erhob sich, er stützte sie, zusammen gingen sie zum Tor.
»Wohin, ihr beiden?« erklang die Stimme Zeradias, der Beschützerin, schroff.
»Der Herr hat befohlen, daß ich sie zu einem Medicus bringe. Sie wird das Morgengrauen sonst nicht erleben«, gab Liva knapp zurück.
Zeradia öffnete das Tor und ließ die beiden passieren. Das Wort der Herrschaften galt. Es fiel ihr nicht einmal auf, daß einer der Sklaven eine völlig falsche Gewandung trug.
Voller Vertrauen hing Querinia am Arm ihres Begleiters, während er sie durch die nächtlichen Straßen der Rabenstadt führte. Bisweilen hörte sie Schritte, Stimmen, Gesang oder verwehende Musik. Die Laute klangen undeutlich, als wären ihre Ohren verstopft. Manchmal wurde sie hastig gegen Wände gedrückt. Sie verstand immer weniger von dem, was um sie herum und mit ihr geschah. Schließlich durfte sie sich hinlegen. Sie vernahm Gesprächsfetzen, zwei Stimmen, die von Liva und die einer Frau.
»Wer ist das?«
»Nur eine Sklavin, ich habe sie mitgenommen.«
»Bei der Schönheit der Welt! Sie sieht grauenhaft aus!«
»Ja, diese bruderlosen Geschöpfe haben den billigsten Pfuscher geholt, den sie kriegen konnten.«
»Kannst du nicht …?«
Ein häßliches Lachen: »Die Heilerei ist nicht gerade mein Fachgebiet.«
Querinia spürte vorsichtig tastende Finger auf ihrem Gesicht. Wo sie es berührten, schienen sie den Schmerz förmlich herauszusagen. Wieder hörte sie die Frauenstimme: »Sie sieht immer noch schrecklich aus, das arme Ding. Warum ist es dir mißlungen?«
»Zu lange her, das Muster war nicht mehr deutlich genug. Ich glaube, es ist ohnehin schwächer bei Sklaven«, hörte sie Livas gepreßte Stimme, »aber sie wird leben.«
»Damit darf sie glücklich sein«, bemerkte die zweite Stimme sarkastisch.
Als Querinia erwachte, fühlte sie sich schmerzfrei und ausgeruht. Sie lag in einem schmalen Bett in einem seltsamen, schwankenden Zimmer. Neben ihr saß Liva, ungeschminkt, wie sie ihn lange nicht gesehen hatte, die Haare wieder schwarz, nur die ausgedünnten Geheimratsecken erinnerten an sein bisheriges Aussehen. Er trug die Gewandung eines wohlhabenden tulamidischen Händlers.
»Du bist auf einem Schiff«, beantwortete er ihre Frage.
»Hat man uns verkauft?«
»Nein, ich habe dich mitgenommen, damit man dich nicht schlägt und foltert, um herauszubekommen, wer ich bin«, behauptete er, obwohl er nicht glaubte, daß man das getan hätte.
»Warum sollte man derlei tun?« fragte das Mädchen furchtsam.
»Weil ich deinen Herrn erstochen habe.«
Erschrocken legte Querinia die Hand auf ihren Mund und fühlte dabei unter ihren Fingern das vernarbte Gewebe ihres Gesichts.
»Aber warum hast du das getan?«
»Er war zufällig da, als ich seinen Gast tötete.«
Querinia setzte sich auf, zog die Beine dicht an den Körper, die Decke darüber, als könne sie ihr Schutz
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