Treibgut - 11
jetzt hat er auch noch Boromeo umgebracht! Bei Boron und allen Göttern, Boromeos Onkel wird das nicht hinnehmen, er wird sich blutig rächen! Was soll ich tun, was soll ich tun? Onjegin Wulwes’H’Jodens ist ein mächtiger Mann, er sitzt im Rat, er wird mich vernichten! Wegen eines tölpelhaften Sklaven!
So sehr war Marno mit seinem künftigen Leid beschäftigt, daß er nicht an den Augenblick dachte. Ganz im Gegensatz dazu Alrisca, die mit wehenden Haaren zur Tür rannte. Sie hatte sie fast erreicht, als ein mit Wucht geworfener Zinnteller ihre Flucht beendete. Ihr Körper bäumte sich auf, als die Tellerkante ihren Nacken traf, dann rutschte sie mit gebrochenem Genick an der Tür hinab. Im selben Augenblick hatte Marno seine Lähmung abgeschüttelt. Er sprang zur Wand, wo der Sklaventod von Imeldes Ahn hing, und riß ihn aus der Scheide. Zwar hatte er seit Jahren keine Waffe mehr in den Händen gehalten, als er aber das Gewicht der gebogenen Klinge spürte, war ihm, als wäre es gestern gewesen. Mit grausamem Lächeln faßte er Liva ins Auge, der inzwischen das Bratenmesser aus dem Hals seines Opfers gerissen hatte. Wie lächerlich, dachte Marno, dieses Messer gegen diese famose Klinge! Sobald er an den Schurken herangekommen wäre, würde er ihn in Stücke hacken. Oder nein, er würde ihn nur verwunden und entwaffnen, dann würde er ihm die Gliedmaßen einzeln abschlagen und seinen wimmernden Rumpf zu Boromeos Onkel schicken; vielleicht würde ihn das versöhnen. Er faßte wieder Zuversicht.
Mit einem gewaltigen Satz sprang Marno über die schmale Seite des Tischs und war nun auf derselben wie Liva. Nun, Hundsfott, das hast du nicht erwartet, wie? dachte er zufrieden. Nur noch drei Schritte trennten ihn von dem Sklaven. Wenn er schnell genug war, würde es seinem Gegner nicht mehr gelingen, um den Tisch herumzulaufen und den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern.
Doch Liva lief nicht davon. Statt dessen griff er nach einer der halbleeren Porzellanterrinen, schüttete den Inhalt über den Tisch und hob das Gefäß in die Höhe. Marno ging in die Knie, faßte den Sklaventod beidhändig, bereit, das Wurfgeschoß abzuwehren.
Aber Liva warf nicht. Wie zum Spott hob er die rechte Hand mit dem Messer, den Zeigefinger abgestreckt. Er deutete auf das Gefäß in der anderen Hand und zerschmetterte es auf der Tischkante.
Marno starrte auf die auseinandergespritzten Splitter. Er hatte nicht das geringste Geräusch gehört, als die Terrine zerbarst. Er hatte überhaupt schon lange nichts mehr gehört. Es war totenstill in diesem Raum! Das konnte nur bedeuten, daß … Sein Gegenüber hatte den kurzen Augenblick der Ablenkung ausgenutzt und war bei ihm. Mit solcher Wucht rammte er ihm das Messer unter dem Kinn in den Rachen, daß die Klinge brach, als sie sich in den Schädelknochen bohrte. Die schwere Waffe entglitt Marnos Händen und fiel lautlos zu Boden. Er sackte auf die Knie, ihm war plötzlich schwach und übel, eine salzige Flüssigkeit füllte seinen Mund, gleich würde er sich übergeben müssen.
Wo war der Sklave? Er sah ihn nicht, er sah nur die hölzerne Gestalt des Mohakriegers, der stumm und nasenlos über das Geschehen hinwegblickte. Marnos Mund öffnete sich und gab den Weg für einen dunklen Sturzbach frei. Zwei Hände packten seinen Kopf und drehten ihn mit einem heftigen Ruck. Wegen der unnatürlichen Stille hörte Marno nicht einmal mehr ein Knacken.
Der Mann, der Liva genannt wurde, ließ den toten Körper fallen, ging zur nächsten Kerze und erstickte die Flamme mit der flachen Hand. So tat er es mit einer nach der anderen. Vor der Wand, wo der Sklaventod gehangen hatte und wo jetzt nur noch die Rosette mit den Dolchen war, blieb er stehen und suchte sich eine der Waffen aus. Er entschied sich für einen Dolch mit dreikantiger Klinge, etwas schartig, sonst gut erhalten. Er wußte nicht, was die Nacht noch bringen würde.
Als er die letzte Kerze bei Boromeos Leichnam löschen wollte, rollte etwas unter seiner Sohle davon. Zwar war immer noch nichts zu hören, denn der Stillezauber dauerte an, aber Liva spürte die Bewegung. Er bückte sich und fand ein schmales Kupferröhrchen, etwa so lang wie sein Daumen. Es paßte bequem in eine geballte Faust, an einem Ende hatte es ein Schiebedeckelchen, das man unauffällig durch eine kurze Bewegung des Daumens öffnen konnte. Das Behältnis mußte Boromeo gehört haben. Liva sah das Röhrchen verwundert an, dann öffnete er es vorsichtig und wedelte
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