Treibgut - 11
Erscheinung eines schmalen Pfeilers gab, eines Pfeilers, der im Licht des frühen Morgens kaum eine Gliederung aufwies. Sie fühlte es! Er würde sich hüten, ihr zu eröffnen, daß sich der finstere Vogel vielleicht schon im Sturzflug befand. Auch wenn es ein Hennenmorgen war, so war es doch kein Geständnismorgen.
»Gefällt es euch bei den Mittelreichern?« wechselte sie das Thema.
»Weniger«, antwortete Scheïjian.
»Mir gefiele es auch nicht bei ihnen«, bekundete Rondriane und kam zurück. Sie setzte sich auf das Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Beine an den Körper gezogen und den Saum des Nachthemds bis über die Zehen gezogen. »Erzähl mir etwas von deiner Insel!« verlangte sie.
»Setz dich zuerst anders hin«, antwortete Scheïjian mit einem rauhen Unterton in der Stimme, denn ihre Haltung und ihre Worte erinnerten ihn zu sehr an die Nähe des Traums, dem er eben entkommen war, und an die Ferne des für immer Vergangenen, an Geschichten, die niemals wahr gewesen waren.
»Es ist viel heißer bei uns«, erzählte er. »Was euer Sommer ist, erscheint uns nur als lauer Tag im Frühjahr oder Herbst. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Auch meine Heimat ist von weiten Wäldern bedeckt, unsere einstige Hauptstadt liegt ebenfalls am Meer, im Südwesten des Landes, und hat eine Gegenspielerin im Norden: Jergan. Wie ich deinen Worten entnahm, ähnlich aufrührerisch wie euer Salza. Euch fehlen ein besseres Klima und eine heilige Stadt im Osten wie unser Boran.«
Rondriane lachte trocken: »Wenn du statt einer heiligen Stadt auch eine von großer Bedeutung zuläßt, dann haben wir auch das. Unser Joborn, sogar der Name klingt etwas ähnlich: Joboran. Viele Kriege wurden seinetwegen mit unserem Nachbarn Andergast geführt, obwohl es wirklich keine bedeutende Stadt ist. Wir sind ein sehr altes Land, weißt du, unsere Fürsten regierten es schon tausend Jahre, bevor eure Insel besiedelt wurde und bevor es eure Sprache gab, und sie werden es auch noch genausolange regieren. Ich will damit nicht prahlen, es gibt keinen Grund dazu. Manchmal scheint es mir, daß wir dazu verdammt sind, dieses Land zu besitzen.«
Sie verschränkte die Hände hinter dem Nacken und sprach mit geschlossenen Augen weiter. Scheïjian verstand, daß es ihr nicht darum ging, von ihm etwas über Maraskan zu erfahren, sondern darum zu reden, gleichgültig, worüber.
»Unsere Vorfahren waren bosparanische Siedler, sie betraten vor fast zweitausend Jahren dieses Land, zur gleichen Zeit, als die Andergasten das ihrige betraten. Nach wenigen Jahren kam es zum ersten Krieg zwischen ihnen und uns. Seither sind zahlreiche weitere gefolgt, die wenigsten wurden überhaupt Kriege genannt, sondern Treffen, Konflikte, Begegnungen und so weiter. Und in all den Jahrhunderten hat sich nichts Wesentliches verändert. Wir haben mit ihnen gefochten, einmal gehörte uns ein Stück ihres Landes, dann wieder umgekehrt, geradeso, als hätte jeder sein göttergegebenes Revier, das der andere ihm niemals abnehmen kann. Vierundsechzig schien dieses fast zweitausendjährige Gerangel dann zu Ende zu sein, als die Andergasten sich mit den Thorwalern zusammentaten, die uns einige Jahre zuvor Kendrar abgenommen hatten. Sie rieben unsere Wehr auf und besetzten weite Teile des Königreichs, ohne daß wir etwas dagegen tun konnten; der Rest stand kurz vor dem Auseinanderfallen. Bei Trontsand, auf halbem Weg zwischen diesem Ort und Salza, wollte ich den Thorwalern eine letzte Schlacht liefern. Aber es kam nicht dazu, sie zogen sich einfach nach Salza zurück und behaupteten, es habe sich nicht gelohnt, dieses Land, unsere Heimat, zu behalten. Sie wollten es plötzlich nicht mehr.
Zusammen mit Andarion, Prinz Kasparbalds Vater und des Königs Sohn, führte ich dann die jämmerlichen Überreste unserer Wehr gegen die Andergasten. Bei Harmlyn haben wir sie geschlagen, obwohl sie uns weit überlegen waren und mehr Reiter, Lanzenträger und Bogenschützen hatten als wir. Doch sie gebärdeten sich so ungeschickt, als wollten sie verlieren. Damit war also alles fast wieder wie zuvor, bis auf Salza, und auch das haben wir vor einem Jahr zurückbekommen.«
»Man sprach erst gestern darüber in einer Taverne«, warf Scheïjian ein. »Eine Frau erzählte es, sie war voll des Lobes über dich.«
Rondriane warf ihm einen unergründlichen Blick zu. »Ja«, sagte sie knapp und ergänzte nach einer kurzen Pause: »Wenn du länger hier bist, solltest du dich daran gewöhnen, nicht
Weitere Kostenlose Bücher