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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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sich anders zugetragen haben, bleibt unter uns.«
    Wieder sah sie ihn lange und ohne Blinzeln an.
    »Aber das Bild ist in Tuzak! Ich habe es gesehen: den Prinzen zu Pferd und mit Gefolge vor einer Festgesellschaft im Freien!«
    Sie nickte. »Das ist es. Doch warum«, fuhr sie mit ihrer dunklen Stimme fort, in deren untersten Schichten ein leises Vibrieren, wie von einem eingefangenen Schwarm Bienen lag, »warum sollte jemand ein Bild entwenden, nur um es dann doch zuzustellen? Ergibt das einen Sinn? Man tut derlei doch nicht, um die Malerei zu bewundern. Das nenne ich die Freuden an den Gaben Hesindes übertreiben.«
    Scheïjian fiel sehr wohl ein Grund für ein solches Tun ein; er behielt ihn jedoch für sich. Es ergab einen Sinn, so zu handeln, wenn man einen fähigen Artefaktzauberer an der Hand hatte. Er konnte das Bild mit einem Zauber und einem Schlüssel belegen, so daß etwa der erste, der vor dem Bild stand und schwärmte: ›Wie schön es ist!‹, den Zauber auslöste, worauf womöglich eine lodernde Flammenzunge dem Betrachter zu einer Begegnung mit Schwester Tsa verhalf, oder unbemerkt ein Beherrschungszauber wirksam wurde. Jedoch wäre derlei sehr aufwendig und unzuverlässig, da der Zauber einerseits von jemand anderem vorzeitig ausgelöst werden konnte und es andererseits nicht sonderlich viele Dinge gab, vor die man sich stellte und ausdrücklich beim Namen nannte. Hinzu kam die Frage nach dem Warum. Allerdings konnte es die verschrobensten Gründe haben, warum jemand einem anderen etwas Unangenehmes zufügen wollte, wie Scheïjian aus eigener Erfahrung wußte. Alles in allem jedoch ergab die Sache wenig Sinn.
    »Gibt es einen Anhaltspunkt, wo sich der Prinz aufhalten könnte?« drängte er.
    Sie schüttelte den Kopf: »Nicht den geringsten. Doch im Grunde benötigt Ihr ihn wahrscheinlich gar nicht zur Beantwortung Eurer Frage. Ihr könnt den Maler fragen, er hat sein Atelier in der Stadt.«
     
    Hätte Scheïjian jemals das Bedürfnis gehabt, bei einer Begegnung zwischen Hase und Parderin die Rolle des Hasen zu übernehmen, so wurde ihm dieser Wunsch erfüllt. Er erwachte, als die Nacht bereits ausbleichte und einige Finken außerhalb der Mauern lärmten. Er öffnete die Augen, sah über sich den Baldachin, spürte die Hand, die ihn aus den Versprechungen und Einschüchterungen des eben noch Wirklichen schüttelte, und erinnerte sich daran, wo er war, erkannte, daß er wiederum nicht dort war, wo zu sein er befürchtet hatte. »Wach auf«, hörte er die Stimme am Ohr, »wach auf! Herr Boron scheint dich nicht gut behütet zu haben, denn du stöhntest in Qual.«
    Er wandte das Gesicht seiner Gastgeberin zu und antwortete: »Es wundert mich nicht. Ich versuchte einen Traum in die Wirklichkeit zu zerren, aber ich war nicht stark genug.«
    Sie stützte sich auf den Ellenbogen und schaute zu ihm herab: »Wie heißt du eigentlich?«
    »Scheïjian«, antwortete er.
    »Und was treibst du sonst, wenn du nicht in den Diensten eurer Hochgeweihten reist? Du bist kein Lehrer eures Glaubens, wie?«
    »Hohe Schwester, sagen wir«, korrigierte er, »nein, das bin ich nicht.« Er lächelte schwach. »Ich bin so etwas wie ein gewerblicher Überbringer von Botschaften und Grüßen. Und selbst?«
    »Rondriane. So etwas wie eine Feldherrin dieses Landes.«
    Sie erhob sich, ging zum Fenster, öffnete es und trat auf einen so schmalen Balkon, daß sie ihn gerade ausfüllte. Auf das Geländer gestützt, starrte sie lange schweigend hinaus, hinunter in den Schloßhof. »Hennenmorgen«, hörte Scheïjian sie endlich sagen, »ein verdammter Hennenmorgen.« Sie wandte sich um. »An so manchem Morgen fühle ich mich wie eine Henne im Hühnerhof.«
    »Den Eindruck erwecktest du gestern nicht«, entgegnete Scheïjian scherzhaft.
    »So meinte ich es auch nicht«, sagte sie vor sich hin. »Doch manchmal kommt es mir vor, als wären wir allesamt nur Hennen und Hähne in einem Hühnerhof. Wir achten ängstlich darauf, daß kein Wiesel oder Iltis hereinbricht, und niemand schaut zum Himmel und bemerkt, daß da oben schon lange lautlos ein Habicht seine Kreise zieht. Er muß sehr weit oben fliegen, denn ich kann ihn nicht entdecken, doch fühle ich, daß er da ist. Nenn es einen Wahngedanken von mir, aber ich höre seinen Flügelschlag. Ich höre ihn, seitdem wir Salza zurückbekamen. Ich weiß, daß es den Habicht gibt, auch wenn ich ihn nicht sehe.«
    Scheïjian betrachtete die schlanke Gestalt, der das lange Nachtkleid die

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