Treibgut - 11
behalten. Sie hatten sie unter großen Anstrengungen über den Höhepunkt der Krankheit hinweggepflegt und auf den Weg der Besserung gebracht. »Gegen meinen Rat verließ sie uns«, beendete Andralas seine Ausführung. »Ich sagte ihr, es sei zu früh und sie noch zu schwach, doch es drängte sie, uns zu verlassen.«
»Ihr spracht von einer Karte?« brachte ihm Ishajid in Erinnerung.
»O ja«, entgegnete der Geweihte, »eine wertvolle und gute Karte der Aventurischen Lande. Ich denke, es hatte mit ihren Papieren zu tun.«
»Er könnte dein Bruder sein, Bruder«, bemerkte Ishajid sarkastisch zu Scheïjian und wandte sich wieder freundlich säuselnd an Andralas. »Welche Papiere?«
»Aufzeichnungen, die sie während ihrer Genesung machte, unverständliches Geschreibsel, sicherlich eine Folge des Fieberwahns. Einige haben wir noch.«
Verwundert blickte er auf seine fremdländischen Gäste, die gleichzeitig zu Salzsäulen erstarrt schienen, und bot sich an, ihnen die Aufzeichnungen zu zeigen. Er führte sie in einen hellen kleinen Raum, dessen Fenster die Form einer durchschnittenen Lilienzwiebel hatte. Durch die Öffnung sah man auf eine Buche, deren Äste bis zum Fenster reichten. Auf einem davon saß ein Zeisig, der sich fleißig das Gefieder putzte und erschreckt davonflatterte, als er die Menschen bemerkte. Hier also hatte Xanjida ihre Krankheitstage verbracht.
Auf einem Schemel lagen einige Bogen Pergament. Mit Erstaunen beobachteten Andralas und Ishajid, wie der dritte Anwesende nach einem flüchtigen Blick die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug und laut stöhnte: »Bei der Schönheit Rurs!« Sie studierten die Pergamente, doch das sinnlose Geschmiere wollte keinen Sinn für sie ergeben. Für Scheïjian ergab es sehr wohl einen Sinn: Es handelte sich um die gleiche Art von Silbenumgruppierungen und -streichungen, die ihm Milhibethjida im Tuzaker Tempel vorgeführt hatte.
Ungeduldig wedelte seine Gefährtin mit den Blättern vor Scheïjians Gesicht: »Was hat das zu bedeuten? Was siehst du darin?«
Er hielt ihr Handgelenk fest, so daß er die Pergamente in Ruhe betrachten konnte, und erklärte: »Sie hat an einer neuen Lösung des 64. Draijsch gearbeitet. So wie sie sich benahm, hat sie offenbar auch eine gefunden. Allerdings habe ich keine Vorstellung davon, in welcher Sprache sie es versucht hat. Diese paar Worte sind mir unbekannt.«
Nacheinander blätterte die Priesterin die Bogen durch, drehte und wendete sie, da sie kreuz und quer beschriftet waren, studierte sie gründlich, leise vor sich hinmurmelnd. Ihre blauen Augen blitzten belustigt auf. »Es ist gar nicht so schwer«, erklärte sie. »Es ist Altmaraskani.«
Scheïjian starrte sie an, als wäre sie von Sinnen.
»Das ist Unfug«, sagte er, »es gibt kein Altmaraskani. Die Sprache unserer Heimat entstand aus der Vermischung der eingesessenen mittelreichischen Siedler mit den Beni Rurech. Die einen sprachen Garethi, die anderen Tulamidya oder ihr Ruuz, das nur ein tulamidischer Dialekt ist. Jeder weiß das.«
»Ich habe nicht behauptet, daß es diese Sprache gibt, sondern daß das, was auf dem Papier steht, Altmaraskani ist oder vielmehr sein könnte. Bedenke, wo wir sind!«
»In Nostria, es ist ein sehr altes Land«, sprang Andralas hilfreich ein.
»Eben«, pflichtete Ishajid bei. »Wir wissen doch, daß Xanjida ein besonderes Interesse am Bosparano hatte. Ihr Aufenthalt hier muß sie auf die Idee gebracht haben, diesen Weg zu beschreiten. Auch dir dürfte aufgefallen sein, daß der hiesige Dialekt des Garethi ein wenig altertümlich verschroben klingt. Erinnere dich an die beiden Adligen in der Kutsche.«
»Na!« protestierte der Geweihte pikiert.
»Ich weiß immer noch nicht, was du mir eigentlich sagen willst, Schwester«, beharrte Scheïjian.
»Stell dir vor, unsere Insel wäre zur gleichen Zeit wie dieses Land besiedelt worden. Welche Sprachen hätte man gesprochen?«
»In Anbetracht der Zeit: Urtulamidya und Bosparano, die Vorläufer des Garethischen und Tulamidischen.«
»Und was hätte sich daraus entwickelt? Bestimmt nicht unser Maraskani. Deshalb hat Xanjida versucht, beide Sprachen so zu vermischen, wie wir es später getan haben.«
Scheïjian schüttelte den Kopf. »Es kann doch nicht sein, daß dieser rätselhafte Vers nicht nur Lösungen in unterschiedlichen Sprachen hat, sondern gar in Sprachen, die es nie gab!«
Dennoch nahm er die Pergamente wieder in die Hand, las, sprach laut aus, was er las, veränderte Betonung
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