Treibgut - 11
und Sprachmelodie. Bisweilen half ihm der alte Geweihte über eine Silbe hinweg, deren Bedeutung Scheïjian nicht kannte. Lauter werdend, wiederholte er in immer größeren Abschnitten, was er herausgefunden hatte, und brüllte es schließlich heraus: ›In seinem einundvierzigsten Jahr war Rurech besessen vor Gram, denn schlimmer als die üblen Surgh dräute der verderbliche Fluß. Ein Vogel ließ sich vor ihm nieder, rot war sein Kleid.‹ Er brach ab und herrschte den Klostervorsteher an: »Wo ist der Rest? Das kann nicht alles sein!«
»Es ist alles, was wir haben«, entgegnete der Greis eingeschüchtert.
»Was bedeutet es?« fuhr Ishajid ihren Begleiter an.
Mühsam beherrscht raunte er: »Sie hat tatsächlich eine weitere Lösung gefunden. Und ihre Lösung enthält eine ähnliche Umschreibung wie jene Stelle der Heiligen Rollen, aus der wir von der Rückkehr des Bethanien erfuhren! Ich wette darauf, daß die vollständige Lösung empfiehlt, wo Asboran erbaut werden soll!«
Durcheinanderredend, schreiend, sich gegenseitig an Lautstärke übertrumpfend, fielen beide Maraskaner über Andralas her, der von seinen Landsleuten solche Gefühlsausbrüche nicht gewohnt war und nur mühsam dem Fragenhagel standhalten konnte: Was war mit der Karte? Gab es eine Gegend, die die Priesterin besonders interessiert hatte? Wohin war sie aufgebrochen? Welches Schiff hatte sie genommen und wann?
»Es war eine sehr genaue thorwalsche Karte der Welt, die wir kennen«, konnte sich der Geweihte endlich durchsetzen. »Sie nahm sie mit, und ich weiß nicht, ob sie ein Ort darauf mehr interessierte als ein anderer. Nein, sie nahm kein Schiff, jedenfalls nicht von Salza, da ihr jemand wegen des thorwalschen Piratengesindels Angst eingejagt hatte. Sie sagte, sie wolle nach Nostria reisen und erst von dort aus ein Schiff nehmen, da es sicherer sei.«
»Da kommen wir her, und wir haben nicht einmal nachgefragt!« rief Ishajid.
»Möglicherweise ist sie schon lange wieder auf Maraskan«, fügte Scheïjian hinzu, trat zornig gegen das Bein des Bettgestells, in dem Xanjida gelegen hatte, und schlug sich gleich darauf kräftig gegen die Stirn: »Ich bruderloser Narr!«
Mit glänzenden Augen rief er aus: »Sie tragen allesamt Bausch, Holzperlen und Federn im Haar!«
»Elfen!« beantwortete Andralas die nicht gestellte Frage und blickte drein, als befürchte er, daß dieser eigenartige Südländer jeden Augenblick in Tobsucht verfallen könne.
»Elfen!« wiederholte Scheïjian. Ishajid sah ihn fragend an. »Weil sie alle gleich gekleidet sind«, erklärte er. »Man muß nicht wissen, daß sie spitze Ohren und schrägstehende Augen haben, man erkennt sie an ihrer Gewandung, die bei allen ähnlich ist. Deshalb versuchte man, dich zu entführen: weil du die gleiche Tracht trägst wie Xanjida! Es hatte überhaupt nichts mit irgendwelchen Ränken zu tun. Wer die Tat plante, hat die Priesterin gekannt. Und wer das Bild fälschte, erfuhr eine der Bedeutungen des 64. Draijsch von ihr. Allerdings muß er auch wissen, daß es andere Lösungen gibt und daß eine davon etwas enthält, das von großem Wert ist. Allerdings scheint er nicht zu wissen, was es ist, da es ihm Xanjida nicht verraten hat, sonst hätte er nicht versucht, dich in seine Hände zu bekommen. Nein, sie hat kein Schiff genommen, sie hat dieses Land nie verlassen!«
Von einem Augenblick zum anderen war Andralas allein in der Kammer. Sorgenvoll sah er zum Fenster hinaus auf den Zeisig, der sich wieder auf dem Buchenast niedergelassen hatte und eben einen Käfer aufpickte. An diesem Abend brachte er zu Papier: ›Der Maraskaner ist ein hitziger Gesell, der das Rätseln liebt und gern in Rätseln spricht. Doch ist sein Naturell noch wankelmütiger als das des Thorwalschen, so daß man leider sagen muß, daß er gleich ihm oft zu Irrsinn neigt.‹
Ishajid und Scheïjian verließen Salza auf einem Paar gestohlener Maultiere. Anfänglich, als Scheïjian mit den schwarzbraunen Tieren ankam, war die Priesterin entschieden dagegen gewesen, sie zu verwenden. »Nie und nimmer setze ich mich auf eines dieser Ungeheuer!« hatte sie protestiert. »Sie werden mich abwerfen, so daß ich mir den Hals breche, oder sie zertrampeln mich.«
»Es sind brave Tiere«, hatte er sie beruhigt, »und wir werden mit ihnen schneller vorankommen. Außerdem sind sie nicht so schwer zu reiten.« Um seine Worte zu unterstreichen, hatte er dabei die mehlfarbene Nase des einen Maultiers getätschelt, das sofort
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