Treibgut - 11
Schrecken wechseln ließ. Scheïjian gesellte sich zu ihnen und erfuhr so, was die Stadt zu verbergen und vergessen trachtete und was ihre fremden Gäste und die Not mancher Einheimischer ihr beharrlich in Erinnerung brachten, nämlich die wahren Umstände des Abzugs der thorwalschen Besatzungsmacht.
Diese Geschichte, die das Mädchen dank vieler Übung flüssig erzählte, unterschied sich wesentlich von der Geschichte, die Scheïjian und Ishajid im Gasthof in Nostria gehört hatten, da sie nicht von Ruhm und Posaunenhall sprach, sondern von Geistern, die vor Jahresfrist für einen Tag und eine Nacht die Straßen der Stadt beherrscht hatten. Sie hatten sich unbemerkt unter die Lebenden gemischt, waren umhergegangen und hatten gesprochen, so lange, bis irgend jemand bemerkte, daß nicht alle Menschen um ihn herum einen festen Körper besaßen und daß es unter den Anwesenden einige gab, die schon lange nicht mehr umhergehen sollten. Entsetzen hatte um sich gegriffen.
Scheïjian wußte nicht, wieviel er dem Mädchen glauben sollte. Zwar schmückte sie ihre Geschichte stark aus – immer noch jämmerlich im Vergleich zu einer tulamidischen Erzählerin –, doch gab es Einzelheiten, die er nicht für erfunden hielt, und nicht nur die anderen Zuhörern fröstelte bei dem Gedanken an ganze Scharen totgeglaubter Zurückgekehrter.
Er stellte Nachfragen, die die Erzählerin gegen weitere Münzen gern beantwortete und die dazu führten, daß sich für Scheïjian, den Magier, ein anderes Bild herauskristallisierte. Es schien ihm nicht mehr so, als wäre diese Stadt wirklich von den Seelen der Rastlosen bevölkert gewesen, es klang vielmehr nach einem gewaltigen Ausbruch elementarer und unverstandener Magie, der sich in optischen und akustischen Illusionen manifestiert hatte!
Dies war zwar weniger unheilig, aber nicht beruhigender, da es Scheïjians Vorstellungskraft überstieg, wie viele Magier nötig gewesen wären, um einen derart gewaltigen Zauber zu wirken und aufrechtzuerhalten. Eine ganze Stadt mit Illusionen zu bevölkern – das war unvorstellbar! Dazu kam, daß diese Illusionen offenbar keine wahllosen gewesen waren, sondern in den Fällen, da sie als die Geister der Toten gedeutet wurden, genauso ausgesehen hatten wie die Erinnerungen derjenigen, die sie erkannten. Allerdings mochte dies eine Übertreibung der Erzählerin sein.
Scheïjian dachte daran, was die Feldherrin Rondriane über die Stadt gesagt hatte. Sie hatte niemals gesagt: Wir haben Salza erobert, sondern nur: Wir bekamen es zurück. Wie ein Geschenk, wie eine Gabe, von der man nicht wußte, warum man sie bekam und ob man sie überhaupt haben wollte.
Er erinnerte sich, daß er etwa zur gleichen Zeit davon gehört hatte, daß ein Drache einen ganzen Landstrich im mittelreichischen Weiden vernichtet hatte. Er überlegte, ob es zwischen diesen zeitgleichen Vorfällen einen Zusammenhang geben mochte, ob sie zu den Vorzeichen von Borbarads Rückkehr gehörten, und fragte sich, ob er nicht kostbare Zeit vergeudete, wenn er in der Fremde einer einzelnen Priesterin nachjagte, statt die verbleibende Zeit bis zum Beginn der Schrecken im Kreise von Freunden und Vertrauten zu verbringen.
Die Ankunft einer Büttelin beendete die Erzählung. Sie vertrieb das Mädchen und mahnte mit ernstem Gesicht: »Ihr müßt nicht alles glauben, was man euch erzählt, und euch von jeder Lügnerin die Taler aus der Tasche ziehen lassen. Wir sind eine ordentliche Stadt.«
Kurz darauf stürmte Ishajid aus der Schneiderwerkstatt, nach wie vor in ihrem Priesterinnengewand, rote Flecken der Erregung auf den Wangen.
»Sie war hier!« verkündete sie. »Im Laufe des Winters. Der Schneider hat es mir erzählt, als er mein Gewand erkannte, daher schien es mir auch keine gute Idee mehr – trotz aller Lästigkeiten –, es zu wechseln.«
»Sie war hier?« antwortete Scheïjian. »Das hatten wir erhofft. Doch wo ist sie jetzt?«
»Soweit ich erfuhr, scheint es in der Nähe ein Hesindekloster zu geben, das sie aufsuchen wollte. Vielleicht kann man uns dort mehr erzählen. Was ist?«
»Ich mußte daran denken, daß sie auch in Kuslik einen Tempel Hesindes aufsuchte. Ich frage mich, was sie zu der Schwester zieht.«
»Vielleicht erfahren wir es dort. Wie der Schneider berichtete, scheint sie von einer Krankheit geplagt gewesen zu sein. Das klingt schlimm.«
Das Kloster lag im Norden der Stadt, zusammen mit seinem Tempel in einem ummauerten Bezirk. Es war in spätbosparanischem
Weitere Kostenlose Bücher