Treibgut der Strudelsee
Angriffe noch wütender, noch ungestümer. Von allen Seiten rüttelte er nun am Leder. Mythor atmete heftig, sog gierig die Luft ein. Seine Gedanken wirbelten in hellem Aufruhr wild durcheinander. Die Stationen seines kurzen Lebens zogen wie flackernde Feuer an seinem geistigen Auge vorbei, während er trat, mit den Fäusten stieß und schrie. Dabei spürte er, wie der Schatten die Lebensgeister aus ihm herauszuziehen versuchte, um ihn zu lähmen, wieder willenlos zu machen.
Die Lichtwelt, das Vermächtnis des Lichtboten… und Fronja… Sein Weg, den er eben erst angetreten hatte. Durch seinen Tod würde das Licht einen Streiter verlieren, der vielleicht allein in der Lage war, die vorrückenden Mächte der Finsternis zu bannen. Irgend etwas in Mythor beschwor ihn, nicht den Tod zu suchen. Eine andere lautlose Stimme sagte ihm, dass er, einmal vom Schatten besessen, zur vielleicht größten Gefahr für die Lichtwelt werden würde.
Aber hatte er nicht schon Zeichen gesetzt? Gab es nicht, nicht zuletzt durch sein kurzes Wirken, schon einige Inseln des Lichts, von denen aus der Kampf gegen das Böse aufgenommen werden mochte, auch wenn es sich über die ganze Lichtwelt ausgebreitet hatte? Waren Leone und diese anderen Stätten nicht Orte, die Heroen hervorbringen konnten, stark genug, um den Kampf aufzunehmen – auch ohne ihn?
Doch die Zweifel überwogen, und mit ihnen wuchs Mythors Verzweiflung. Er begann zu rasen, schlug um sich, als könne er den Schatten allein mit seinen Fäusten bezwingen. Jeder Atemzug bereitete ihm schon unerträgliche Qualen. Grelle Punkte tanzten vor seinen Augen und wurden von der Finsternis verschluckt, die dichter wurde, immer dichter. Sie drang auf ihn ein, fraß sich in sein Denken, lähmte ihn und nahm ihm alle Kraft aus den Gliedern.
Dort, wo der Schatten am Leder zerrte, glaubte Mythor Bewegungen, Schemen in der Finsternis zu sehen, die sich zusammenballten und sich auf ihn zu schoben. Er hörte seine Schreie nicht, doch seine Lungen drohten zu platzen. Allein der Schmerz verhinderte noch, dass er in diesen Augenblicken aufgab. Er musste dem Schatten zuvorkommen, sterben, ehe er zu seinem Werkzeug wurde.
Mythor hielt die Luft an, schloss die Augen und streckte Hände und Füße abwehrend von sich. Nicht mehr atmen! Nicht der Versuchung erliegen, nicht auf die Stimmen hören, die da riefen: Lebe!
Dann war es, als drückten sich Meeresungeheuer von allen Seiten gegen den Sack. Mythor bekam ein paar harte Stöße in die Rippen. Seine abwehrenden Hände wurden jäh zurückgestoßen. Der Verzweifelte biss die Lippen aufeinander, so fest, dass er das Blut schmeckte, das ihm in den Mund drang. Schon griff die Ohnmacht nach ihm. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis…
Plötzlich war es ihm, als zögen sich die Klauen des Schattens von ihm zurück, und noch einmal bäumte sich alles in ihm gegen den Tod auf. Mythor lauschte in sich hinein -und da war etwas anderes in ihm, nicht die wispernden Stimmen, von denen er wusste, dass sie aus ihm selbst herauskamen. Der Schatten wich zurück, klammerte sich an das Leder und… kämpfte!
Mythor konnte nichts sehen und nichts hören. Aber nun wusste er mit untrüglicher Sicherheit, dass dort draußen, in den Fluten des Strudels, ein unheimlicher Kampf tobte.
Aber welcher Gegner hatte es mit dem Schatten aufgenommen?
*
Irgendwann verließ den Sohn des Kometen das Bewusstsein. Die Luft um ihn herum war verbraucht. Der Tod, den er gesucht hatte, griff mit eisigen Klauen nach ihm -jetzt, da er gerade begonnen hatte, neue Hoffnung zu schöpfen.
Zeit verstrich. Irgendwann begann Mythor wieder zu fühlen, zuerst den Schmerz in seinen Gliedern, dann das, was seine Hände ertasteten.
Er war nach wie vor im Ledersack gefangen, doch nun hob und senkte sich seine Brust wieder unter regelmäßigen Atemzügen. Die Luft war frisch und rein, als sei er eben erst eingeschlossen worden.
Ein schrecklicher Gedanke kam Mythor. Er schrie und suchte im Dunkel etwas zu erkennen. War er bereits besessen? Hatte der Schatten den Kampf gegen seinen unbekannten Gegner gewonnen und von Mythor Besitz ergriffen, kurz bevor die Flamme seines Lebens erlosch?
Aber da war nichts Fremdes in ihm, nichts, was er fühlen, mit seinen Sinnen ertasten konnte. Er lebte, und er war frei in seinen Gedanken. Keine Finsternis fraß an seiner Seele. Im Gegenteil – er spürte den Schatten nicht mehr. Die Lederblase trieb weiter im Strudel, wurde herumgeworfen und gedreht, aber
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