Treibhaus der Träume
zu dem Menschen, der dann auf dem OP-Tisch lag und aufgeschnitten wurde. Ebensogut hätte man ein Kalb aufschneiden können oder ein Kaninchen oder eine Ratte. Und Lorentzen hatte sich vorgenommen: Wenn du jemals in die Lage kommst, eine Klinik zu leiten, so wird der Patient dein Freund sein. Dann wirst du jeden Namen kennen. Du wirst wissen, wie er zu Hause lebt, was für Sorgen er hat, woran er denkt, wenn er nachts nicht schlafen kann, was er sich wünscht, ob er glücklich oder unglücklich ist tief unten in seiner Seele; du wirst wissen, was ihn bedrückt, und du wirst mit ihm sprechen und dir alles anhören.
In der Almfried-Klinik war es nun so. Er kannte das Leben aller seiner Patienten. Er wußte, daß Frau Hemsbach eine seit Jahren von ihrem Mann vernachlässigte Frau war und deshalb zänkisch und bissig geworden war; er wußte, daß Direktor Platteis seine Sekretärin liebte; er wußte, daß Frau Dorfach sich in einen jungen Referendar ihres Mannes verliebt hatte und sich die Falten aus dem Gesicht ziehen ließ, um jünger zu sein und für den ›lieben Putzi‹ eine glatte Haut zu haben. Er wußte alles … und nun mußte er lügen und sich so geben, wie alle Welt sich einen großen Arzt vorstellt: Ein unnahbarer Herrscher im Reich der Sterilität.
Der Hauptkommissar räusperte sich. »Und Ihnen ist nichts aufgefallen?«
»Nein.«
»Lesen Sie keine Zeitungen?«
»Kaum. Wann habe ich Zeit dazu? Abends mal den politischen Teil und das Feuilleton. Aber die sogenannten Boulevardseiten überschlage ich. Was interessiert mich die Liebe des Beat-Sängers Bumba Rakket zu dem Starlet Mia Mies?«
»Radio? Fernsehen?«
»Wenig. Nur interessante Programme. Zu den Nachrichten komme ich nie. Was gibt es denn auch Neues? In der UNO redet man, in der EWG streitet man, in Bonn immer wieder mal Träume von Wiedervereinigung oder Steuererhöhungen in Sicht, die Lage war noch nie so ernst, 1. FC Rumpelstadt siegt 3:6 über Kickers Klingelkirchen, es starb irgendein Dichter. Das kommt am Schluß, weil Kultur am unwichtigsten ist.« Dr. Lorentzen schüttelte den Kopf. »Lohnt es sich?«
»Und Sie haben nie etwas von dem Bankraub gehört?«
»Nein.«
Der Hauptkommissar sah auf seine Hände. Was soll man mit einem Menschen anfangen, der nur Arzt ist, dachte er. Solange wir den Bornemann nicht haben, ist nicht nachzuweisen, daß er doch wußte, wen er da beherbergte. Und wenn er es wußte: Warum hat er dann nicht die Polizei gerufen? Mit der berühmten ärztlichen Schweigepflicht wäre da nichts auszureden … Eine Schönheitsoperation ist keine Krankheit. Das ist meine Ansicht.
»Das wäre alles, Doktor«, sagte der Hauptkommissar aus München. Er blätterte in seinem Notizbuch und zog die Brauen hoch. »Sie hatten kürzlich einen mysteriösen Todesfall hier?«
»Einen normalen Abgang. Das Mysteriöse ist durch eine Obduktion widerlegt worden.« Dr. Lorentzen lehnte sich zurück. Jetzt kommt ein Geschoß von Heberach. Sein Vortrag in München hat also Früchte getragen. Wer mit Jauche bespritzt wird, der stinkt auch Tage später noch aus den Poren.
»Wissen Sie, daß die Ärztekammer in Kürze eine Kommission zu Ihnen schickt?«
»Nein!« Lorentzen richtete sich auf. Er hatte damit gerechnet, aber er war nicht darauf vorbereitet, daß ihm ein Kriminalbeamter so etwas mitteilte. »Woher haben Sie die Nachricht?«
»Mein Schwager sitzt in der Ärztekammer. Er sprach darüber.«
Der Hauptkommissar stand auf und packte seine Aktentasche ein. Die Karteikarte von Bornemann nahm er mit. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Dr. Lorentzen«, sagte er an der Tür. »Sie können es brauchen. Einen ganzen Sack voll.«
Lorentzen wandte sich ab, als der Kommissar gegangen war, und trat ans Fenster. Von den Bergen kamen die beiden Polizisten aus St. Hubert zurück. Die Hunde liefen müde neben ihnen her.
Sollte Bornemann durchgekommen sein? dachte Lorentzen. Wenn die Hunde ihn nicht aufspürten, dann finden ihn auch nicht die Menschen oder ein Hubschrauber.
Und plötzlich überkam ihn eine bleierne Müdigkeit. Er ließ sich in einen Sessel fallen, legte den Kopf weit zurück auf die Rückenlehne und schloß die Augen.
Morgen Face-lifting, dachte er. Eine Geiernase. Eine Fettschürze wegnehmen. Kontrolle des Rundstiellappens bei Graf Rethberg. Eine Unterhaltung mit der kleinen Bardame Resi Haberstock. Sie hatte geweint, sagte Schwester Frieda. Glaubt nicht an einen Erfolg der Operation.
Ein neuer, schwerer Tag. Und die Jagd auf
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