Treibhaus der Träume
auf, faßte den Arm der jungen Frau und riß sie in den Wagen. Mit einem leisen, ächzenden Laut sank sie an seine Brust und klammerte sich an ihm fest. Krachend schlug die Tür zu. Der Zug donnerte aus der Bahnhofshalle.
»Das war aber leichtsinnig, gnädige Frau«, sagte Dr. Lorentzen tadelnd. »Um ein Haar wäre es schiefgegangen.«
Die junge Frau nickte atemlos. »Ich mußte den Zug noch bekommen. Der nächste geht erst gegen Mittag.«
»Ich habe erlebt, wie jemand aufspringen wollte, ausrutschte und unter die Räder kam. In Rom. Es sah nicht sehr schön aus, was von dem Mann übrigblieb.«
»Ich danke Ihnen.« Die junge Frau lockerte den Griff um Dr. Lorentzen und wollte zurücktreten. Mit einem hellen Schmerzenslaut knickte sie ein und klammerte sich wieder an ihn. »Mein Fuß. Der rechte. Ich glaube, ich bin beim Aufspringen umgeknickt. Ich kann nicht auftreten.«
»Lassen Sie mal sehen.« Dr. Lorentzen ging in die Hocke, und während sich die junge Frau an der Tür festhielt, hob er den rechten Fuß etwas hoch und bewegte ihn.
»Au!« sagte die Frau. »Ja, das tut weh. Ganz gemein weh.«
»Gebrochen ist nichts.« Dr. Lorentzen tastete die schlanke Fessel ab und betrachtete das schöne, lange Bein. Deutlich sah er, wie sich eine Schwellung im Gelenk ausbreitete. »Ob es einen Bänderriß gegeben hat, muß die Röntgenaufnahme zeigen. Auf jeden Fall sind Sie ganz schön umgeknickt und haben sich eine Distorsion zugezogen. Die nächsten sechs Wochen werden Sie einen dicken und in allen Farben leuchtenden Knöchel haben.«
Die junge Frau verbiß tapfer den Schmerz, als Dr. Lorentzen das Bein wieder losließ. »Sie … Sie sind Arzt?« fragte sie.
»Ja.« Das war knapp gesagt, fast abweisend, so, als wolle er nicht daran erinnert sein. »Stützen Sie sich auf meine Schulter und hüpfen Sie auf dem gesunden Bein nebenher. Ich bin allein im Abteil. Da können wir den Fuß hochlegen.«
»Danke.« Die junge Frau lächelte Dr. Lorentzen etwas befangen und verzeihend an. »Ich mache Ihnen solche Umstände. Sie sind sehr freundlich.« Sie legte die Hand um seine Schulter und hüpfte, von ihm gestützt, in das leere Abteil 1. Klasse. Dort legte sie sich vorsichtig auf die Polsterbank und streckte das verstauchte Bein von sich. Dr. Lorentzen holte die Koffer herein, warf sie ins Gepäcknetz und schob seinen zusammengefalteten Mantel als Kopfkissen unter die blonden Locken der jungen Frau.
Der Zug ratterte durch die weite Ebene südlich Hamburgs. Saftige Wiesen, ein Gewirr von Kanälen, schlanke Birken und breitkronige, knochige Weiden. Die roten Dächer der Bauernhäuser, tief heruntergezogen wegen der scharfen Winde von der Küste, leuchteten in der Morgensonne.
»Ziehen Sie bitte Schuh und Strumpf aus«, sagte Dr. Lorentzen nüchtern. Er hatte sich umgedreht und holte eine schwarze, dicke Aktenmappe aus dem Netz. Die typische Arzttasche, dachte die junge Frau. Wenn er sie gleich aufklappt, ringeln sich die Schläuche des Stethoskops heraus. Dann kommt die Rolle mit der Blutdruckmanschette, ein Chromkasten mit Spritzen und Nadeln, ein Gewirr von Schachteln und Röhrchen, Arztpackungen.
Aber nichts dergleichen geschah. Eine Reiseflasche Kognak kam zum Vorschein. Dr. Lorentzen stellte sie auf das aufgeklappte Tablett am Fenster.
Vorsichtig zog die junge Frau den Schuh aus – einen hochhackigen dunkelroten Schuh aus blitzendem Lackleder – und anschließend den Strumpf. Es waren schöne Schenkel, die in der Sonne lagen. Fest, gut geformt, glatt. Dr. Lorentzen warf einen schnellen Blick auf die Beine, einen völlig unärztlichen Blick. Dann wandte er sich wieder seiner Kognakflasche zu, schraubte sie auf und holte aus der Tasche ein weißes Handtuch.
Wer mag sie sein, dachte er dabei. Sie ist gepflegt und hübsch. An den Fingern trägt sie nur einen Brillantring. Ende Zwanzig mag sie sein. Ein sportlicher Typ, der viel Wert auf Kosmetik legt. An den Beinen ist nicht ein Härchen, die Zehennägel sind manikürt wie die Fingernägel und gelackt. Sie ist schlank und doch voll weiblicher Formen. Man sieht selten solchen Einklang von Gesicht und Körper. Wie viele hundert weibliche Körper hatte man schon gesehen, in den Klinikbetten, auf dem Operationstisch, im Röntgenraum, auf der Liege im Untersuchungszimmer. Nur wenige Körper waren vollkommen. Hier schien eine der großen Ausnahmen zu sein.
Dr. Lorentzen beugte sich wieder über den Fuß. Die Schwellung war nun deutlich sichtbar. Auch ein Hämatom breitete
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