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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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halbwegs lebhafte Phantasie sich Unerhörtes vorstellen mochte?
    Auf dem abgesicherten Teil des Parkplatzes setzten sich zwei weiße Mercedes-Transporter ohne Aufschrift in Bewegung und fuhren im Schritttempo Richtung Sichtschutz. Kurz davor hielten sie und wendeten, bis sie mit dem Heck Richtung Schiff standen. Dann fuhren sie langsam rückwärts hintereinander bis an die Gangway. Mit ein wenig Anstrengung hätte sie auf sie hinunterspucken können. Vielleicht vergiftet.
    Die Hecktüren der Transporter öffneten sich fast gleichzeitig. Aus dem, der dem Schiff näher stand, stiegen sechs Gestalten in dicken hellgelben Anzügen, fast wie Astronauten. Mit Handschuhen, klobigen Schuhen, Gesichtsfenstern im hermetisch versiegelten Kopfteil, und darunter Atemapparate, die ihnen das Aussehen insektenartiger Mutationen verliehen. Tatsächlich meinte sie, ein vielstimmiges Sirren oder Brummen zu hören, leise, wie von einem Hornissenschwarm, der sich näherte. Sie vermutete, dass es die Elektromotoren der Atemgeräte waren. Hier wollte jemand wirklich kein Risiko eingehen. Und keine Zeit verlieren. Bei aller Schwerfälligkeit bewegten sie sich zielstrebig und schnell.
    Die sechs Gestalten trugen verschiedene Koffer und Taschen, zwei hatten eine Art Plane zwischen sich, zusammengerollt wie einen Teppich. Als sie den überdachten Teil der Gangway erreichten, verschwanden sie aus ihrem Gesichtsfeld. Aus dem zweiten Transporter stiegen zwei weitere Gestalten in Raumanzügen, die etwas weniger in Eile schienen. Sie gingen zum ersten Transporter und begannen, ihn auszuladen: Plastikcontainer und Paletten mit eingeschweißtem Material auf Transportrollern, alles aus grauem Kunststoff. Als sie fertig waren, blieben sie ruhig nebeneinander stehen wie geschlechtslose Zwillinge aus einer anderen Welt. Sie konnte ihre Gesichter durch die reflektierenden Sichtfenster nicht erkennen. Sie gaben einander Zeichen, offenbar ging es darum, dass einer von beiden das Mikrophon oder die Kopfhörer einschalten sollte, damit sie miteinander sprechen konnten. Der Mai war warm, über zwanzig Grad heute, schätzte sie. Die beiden mussten schwitzen.
    Sie hätte sich gern hingesetzt, aber sie wollte nichts verpassen. Also wartete sie mit ihnen, auch wenn sie nichts von ihr wussten. Sie merkte, wie ihr Blick nach einer Weile nach innen ging und wie sie sich schon bald nicht mehr vorstellen konnte, noch länger zu stehen; ihre Beine schienen aus einem dafür ungeeigneten Material. Sie schloss die Augen und sah zu, wie ihre Gedanken in lauter falsche Richtungen flohen. Wie ging es ihrem Kind? Wo war sie jetzt noch zu Hause? Was gab es jetzt außer schierem Überleben noch zu tun, was richtig war, und war überhaupt das noch das Richtige: überleben?
    Vielleicht waren ihre Augen so trocken, weil sie schon Fieber hatte. Eine andere Erklärung hatte sie nicht dafür.
    Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass die Weltraumzwillinge sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Sie öffneten die Hecktüren des zweiten Transporters und kletterten hinein. Sie konnte erkennen, dass dieser Transporter ein Schienensystem hatte, in das man eine Trage einklinken konnte wie bei einem Krankenwagen, und mit Plastik abgedeckte Geräte und Instrumente. Jetzt kamen vier der anderen Gestalten in Schutzanzügen aus der Gangway. Sie bewegten sich langsam und trugen zwischen sich einen Zinksarg, dessen Deckel beim Schließen Folie eingeklemmt hatte, die an den Seiten heraushing. Sie dachte daran, wie er am Anfang der Reise einmal gesagt hatte, am liebsten würde er nie wieder von Bord gehen.
    Dieser Wunsch immerhin, dachte sie, ist ihm erfüllt worden. Ob er es verdient hat oder nicht: Im engeren Sinne von Bord gehen musste er nicht, tatsächlich nie wieder; er wurde von anderen geschleppt wie der schwere Tote, in den ihn die Reise verwandelt hatte.
    Jemand packte sie an der Schulter. Sie stöhnte vor Schwäche und Schmerz in dem Sekundenbruchteil, bevor sie Angst hatte und herumfuhr. Der dunkelhaarige Steward mit dem künstlichen Osteuropa-Akzent stand vor ihr und sah sie an, als hätte er sie am liebsten geschlagen, traute sich aber nicht, ihre bloße Haut zu berühren.
    «Devi nascondere», sagte er zu ihr, eher müde als drohend. Sie nickte und trat von der Reling zurück. In den Gläsern seiner Sonnenbrille sah sie ihr rotes Haar vor dem blauen Maihimmel und der zart gewölbten Silhouette der Stadt. Nichts schien ihr trostloser, als sich mitnehmen zu lassen in den Schiffsbauch.

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