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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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als würde er jetzt herunterkommen. Dann der Vorhang, den seine Mutter genäht hatte.
    «Können wir?», fragte Finzi. Das Haus war hinter einer Hainbuchenhecke, die höher war als Danowski. Es gab zwei Klingelschilder aus graviertem Edelstahl: «FeinGeist» und «K&C Lorsch». Sie warfen sich einen Blick zu, und Finzi klingelte. Danowski atmete tief ein und dachte an seine Ausbildung und die ersten Jahre bei der Schutzpolizei in Wilmersdorf. Adresse überprüfen: abgehakt. Identität der Person überprüfen, die die Tür öffnet. Sich ausweisen. Die Wohnung betreten, sich vorstellen. Und dann, möglichst wortwörtlich: «Wir müssen Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass Ihr Mann …» Und so weiter. Meistens kam man beim Skript nur bis zum Ausweiszeigen, bevor die Gegenfragen begannen und die Tränen liefen.
    «Keiner da», sagte Finzi mit schlecht gespielter Enttäuschung.
    «Wo hast du denn geklingelt?», fragte Danowski.
    «Ich glaube, bei Lorsch.»
    «Bist du sicher? Probier’s noch mal.»
    «Was soll das heißen, ‹FeinGeist›?»
    «Vornehmes Wortspiel für teuren Schnaps und geistreichen Besitzer, nehme ich an.»
    Finzi drückte beide Klingeln zugleich wie ein Kind bei einem nicht besonders ambitionierten Klingelstreich.
    «Ja?» Die Stimme aus der Gegensprechanlage klang, als würde sie heute genau in diesem Moment zum ersten Mal benutzt.
    «Guten Morgen», sagte Finzi. «Kriminalpolizei. Würden Sie uns bitte die Tür öffnen?» Danowski malte sich aus, wie die unsichtbaren Nachbarn hinter ihren Hecken die Ohren spitzten.
    «Kriminalpolizei?» Die Frauenstimme aus dem Lautsprecher ließ das Wort arglos quer über die Straße scheppern. «Würden Sie mal bitte Ihre Ausweise in die Kamera halten?»
    Finzi rollte mit den Augen, und Danowski suchte die Kamera, während er seinen Ausweis aus der Innentasche zog. Finzi deutete auf ein winziges Kameraauge, das hinter einer Blende am oberen Ende der linken Toreinfassung angebracht war, offenbar, um die ganze Einfahrt überwachen zu können. Danowski trat heran und hob seinen Ausweis Richtung Kamera.
    «Ich kann nichts erkennen», sagte die Frauenstimme müde. Danowski seufzte, reckte sich, gab dann auf und reichte Finzi seinen Ausweis, der ihn in einer Hand mit seinem eigenen vor die Kamera hob. Der Summer ertönte, und Danowski drückte die Gartentür auf.
    «Weißt du, was ich gesagt hätte, an ihrer Stelle?», fragte Finzi, während sie über einen Schotterweg durch den leeren Garten liefen. «Während du versucht hast, deinen Ausweis zu zeigen?»
    «Nee», knurrte Danowski im Gehen, die geschlossene Haustür vor ihnen fixierend. Die Tür sah schwer, glatt und dunkel aus, geöltes Tropenholz mit einem ganz schmalen Sichtschlitz und parallel dazu einem langen Stahlgriff zum Öffnen, wie die Öffnung einer Schleuse, die man nur betätigt, wenn man unbedingt muss. Das Haus war für ihn ein verwischtes Puzzle aus weiß überstrichenem Klinker, Fenstern mit schwarzen Stahlrahmen, einem frisch gedeckten Spitzdach und wenig Grün.
    «Ich hätte gesagt: ‹Kommen Sie wieder, wenn Sie gewachsen sind!›», sagte Finzi und lachte. Danowski verdrehte die Augen. Dieser Garten war sehr groß, der Flieder blühte, und sein Duft erinnerte Danowski an die Abenddämmerungen seiner Kindheit. Der Rasen war so kurz gemäht, dass er hart aussah.
    «Und?», fragte Finzi. «Was sagst du? Eins oder zwei?»
    «Hör auf damit», sagte Danowski. «Ich mach das nicht mehr.»
    «Komm schon. Du musst nur eins oder zwei sagen. Eins ist fickbar, zwei ist unfickbar.»
    «Finzi, das ist eine Witwe.»
    «Adam, das ist doch nur ein Spiel.»
    Danowski schüttelte den Kopf. Die Haustür roch nach Holzöl. Danowski klopfte.
    «Eins oder zwei?» Danowski ignorierte ihn, weil er sah, dass sich hinter dem Fensterschlitz die Lichtverhältnisse änderten.
    «Die Default-Einstellung ist: ich eins, du zwei», zischte Finzi.
    Danowski räusperte sich und kniff die Augen zu, um wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde allein zu sein.
     
    Kathrin Lorsch sah aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Aus ihren Meldedaten wusste Danowski, dass sie siebenundvierzig war. Sie hatte ihr graues Haar mit einem hellblauen Haargummi zu einem desolaten Pferdeschwanz gebunden, darin gerade noch so viel braune Haare, dass sie es nicht mehr schafften, die Gesamtfarbe entscheidend zu beeinflussen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, einen deutlichen, aber schwer beschreibbaren düsteren Zug im Gesicht und

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