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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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anatomische Details, die er eigentlich nur aus Autopsieberichten der Rechtsmedizin kannte. Die Kinder auf dem Bild sahen aus wie Gerippe, die sich zur Verkleidung an einem seltsamen, nur Gerippen bekannten Feiertag die Haut und die Haare lebender Kinder übergestreift hatten.
    Als Danowski einen Schritt zurückging, um einen Lichtschalter zu suchen, hörte er aus dem Wohnzimmer einen scharfen, kurzen Schrei, erschreckt und wie ein Fluchen, der Stimmhöhe nach klar von Kathrin Lorsch, gefolgt von einem Wimmern, das wie «Was ist das, was ist das?» klang, darauf von Finzi «Moment, Moment!», als gälte es, etwas zu erklären oder zurückzunehmen. Mit zwei Sätzen war Danowski bei der Tür, hielt kurz in der Diele inne, fand die Gästetoilette und betätigte schnell die Spülung und den Wasserhahn, sodass er mit nassen Händen ins Wohnzimmer kam.
    Kathrin Lorsch stand vor dem Sofa, eine Hand vors Gesicht geschlagen, in der anderen Finzis Smartphone, das sie von ihm weg hielt.
    «Am besten, Sie geben mir das wieder», sagte Finzi, was Danowski nicht gerade den Höhepunkt an Überzeugungskraft fand.
    «Was ist das? Was ist passiert?», fragte sie und ächzte, ihr Mund schien zu trocken zum Schluchzen. Er sah Finzi fragend an.
    «Das Tropeninstitut hat die Bilder von Carsten Lorsch geschickt», erklärte Finzi und streckte die Hand nach seinem Telefon aus. Danowski verstand nicht.
    «Wir haben zusammen aufs Display geguckt, während das Telefon die Fotos geladen hat. Wäre vielleicht besser gewesen, ich hätte mir die erst mal allein angeschaut. Oder …» Finzi rieb sich mit einem Handballen die Stirn und winkte mit der anderen Hand ab. «Oder niemand hätte sich die jemals angeschaut.»
    Danowski trat zu Kathrin Lorsch. Sie standen nebeneinander und waren exakt gleich groß. Er kannte den Effekt und hatte ihn oft ausgenutzt: andere empfanden ihn nicht als Bedrohung, weil er zerbrechlicher schien als Finzi und all die durchtrainierten und kahlrasierten Kollegen im Präsidium. Sie gab ihm das Telefon, als gehörte er entfernt zur Familie.
    Sehr geehrte Kollegen,
    anbei, wie heute Morgen vereinbart, zwei Fotos von Lorsch, Carsten usw. zur Identifizierung des Toten. Bitte gehen Sie verantwortungsvoll damit um und betrachten Sie dies nicht als Teil eines offiziellen Schriftverkehrs. Bitte setzen Sie sich bei nächster Gelegenheit mit mir in Verbindung.
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Tülin Schelzig
    Es folgten ihre Signatur und die Angaben des Tropeninstitutes, über die Danowski hinwegscrollte, um zu den Fotos des toten Carsten Lorsch zu gelangen.
    Die Gesichter von Toten waren selten schaurig, fand Danowski. Durch einen stumpfen Gegenstand, durch Schnittwunden, durch Verbrennungen, einen Sturz oder durch Tritte und Schläge: Die Arten, auf die ein Gesicht entstellt werden konnte, waren trotz aller Variation überschaubar, eine mechanische Zerstörung ähnelte in gewisser Weise der anderen. Stets fehlte etwas (ein Auge, die Nase, das Kinn, Teile der Haut, die Intaktheit der Knochen, Zähne, die Ohren oder einfach das Leben), aber immer war auch etwas da, das von Mal zu Mal gleich blieb: ein erschöpfter, leicht verärgerter Ausdruck, der eher irritiert als entsetzt schien über den eigenen Mangel an Leben und das Durchlittene. Und bei verwesten Gesichtern oder solchen, die von Insekten befallen oder verändert worden waren, hielt sich ein Ausdruck von Friedlichkeit die Waage mit einem von Skurrilität, was nach über zwanzig Jahren im Job alles andere als unheimlich war, eher auf beinahe tröstliche Weise menschlich und vertraut. Es gab vieles, was Danowski Angst machte an seinem Beruf, aber die Gesichter der Toten gehörten nicht dazu. Vielleicht, dachte er, ist das ein Fehler an der Art, wie wir unseren Beruf ausüben: dass wir irgendwann glauben, wir haben alles gesehen. Und dann trifft uns das, was wir noch nicht gesehen haben, unvorbereitet. Und: Vielleicht hätte ich doch eine Adumbran nehmen sollen.
    Er hatte Mühe, sich auf dem Foto zurechtzufinden, weil er auf den Bildschirm getippt hatte, um die Schrift der Mail zu vergrößern, und jetzt war das Foto von Carsten Lorsch eine einzige dunkle Landschaft in Dunkelgelb, Ocker und Rot. Er fingerte am Display herum, bis das Bild in der richtigen Größe zu sehen war. Es ergab trotzdem keinen Sinn. Es sah aus wie das formatfüllende Foto einer exotischen Soße, das jemand auf Facebook gepostet hatte. Die Gesichtshaut von Carsten Lorsch war offenbar in einem dunklen,

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