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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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schlafe. Ich schlafe tief.
    Wie lange war es her? Anderthalb Jahre? Fast zwei. Das Geld war kein Problem. Das Geld würde noch einmal so lange reichen. Das Problem war die Langeweile. Und das verfluchte Olivenöl.
    Die Senyora betrachtete das Windrad der Nachbarn, grün, das aussehen sollte wie eines von den alten, aber sie hatte es hinten auf dem Lieferwagen untersucht: Die Blätter waren aus Kunststoff. Wie alle ihre Nachbarn waren auch die mit dem neuen Windrad Deutsche, die hier Land gekauft hatten. Die Senyora tat, als verstünde sie kein Wort, sie nickte ihnen zu und drängte ihnen Olivenöl auf. Sie war erst seit sieben Jahren hier, aber es war die perfekte Tarnung: Die Deutschen hielten sie für eine, deren Familie hier seit Generationen versuchte, den von der Trockenheit gekrümmten Olivenbäumen mühsam das Öl abzupressen.
    Die Einheimischen hingegen hielten sie für eine
repatriata
, eine, die vielleicht als Kind mit ihren Eltern nach Nordeuropa gegangen und jetzt ins Heimatland zurückgekehrt war und hier auf der Insel etwas suchte, was es auf dem Festland nicht gab. Das war genau, was sie erreichen wollte: Sie war für alle uninteressant. Eine dunkle, kleine Frau Anfang fünfzig, mit der dunklen, preiswerten Kleidung der Landbewohnerinnen, mit Turnschuhen und einem zehn Jahre alten Seat Ibiza.
    Mit wenig Aufwand konnte sie diesen Zustand verändern, um den Effekt abzuschwächen oder zu verstärken. Wenn sie jemandes Aufmerksamkeit erregen wollte, konnte sie sich mit einer Veränderung ihrer Körpersprache, mit zehn Minuten im Badezimmer und drei Griffen in den Kleiderschrank in eine dralle, nicht unattraktive Frau Anfang vierzig verwandeln. Oder, indem sie eine schwarze Strickjacke anzog und sich ein Kopftuch umlegte, dunkelblaue Strumpfhosen und graue Sandalen anzog und ihr Gesicht nach unten hängen ließ, in eine praktisch unsichtbare Großmutter von Anfang, Mitte sechzig. Was immer sie brauchte, damit sie auf Flughäfen, in Hotels, auf Kreuzfahrtschiffen und an Autobahnraststätten übersehen oder zumindest schnell vergessen wurde: eine dicke, unscheinbare Frau, das perfekte Phantom.
    Also schlief die Senyora und wartete auf den Anruf, der sie wecken sollte. Einmal in der Woche fuhr sie am Freitagvormittag in die Kreisstadt und setzte sich ins mittlere der drei Cafés am Platz. Sie wartete darauf, dass zwischen zehn und elf das Telefon hinter der Bar klingelte. Jorge, der aus Bielefeld kam, eigentlich Jörg hieß und sie nicht kannte, würde abnehmen, mit (was wirklich nicht einfach war) deutschem Akzent «Sì?» sagen, zuhören und sich dann im Lokal umschauen, bis er sie einen Meter von sich entfernt entdecken würde. «Per a tu», würde er sagen und ihr den Hörer reichen, und sie würde erfahren, was sie brauchte: einen Ort, einen Zeitraum und den Code dafür, wo der Name und das Material dazu lagen. Und dass das Warten zu Ende war.
    Bis dahin lebte sie als Teil der Landschaft auf der Finca und machte Olivenöl. Niemand interessierte sich genug für sie, um zu bemerken, dass sie niemals auch nur einen Liter mehr gepresst hatte, als sie brauchte, um hin und wieder an die Nachbarn eine selbst abgefüllte Flasche zu verschenken. Manchmal fragten die Deutschen, ob sie noch mehr Öl habe, für Freunde oder die, die in der Heimat die Blumen gossen und die Katze versorgten. Dann sagte die Senyora: «Dimecres en Santanyi», mittwochs auf dem Markt, und die Deutschen nickten und freuten sich, aber sie kamen nie oder wenn doch, dann fanden sie sie nicht und kauften das Olivenöl von jemand anders, jemand, der nicht seit fast zwei Jahren auf einen Anruf aus dem Norden wartete.
    Das Gute war: Wenn man von Deutschen umgeben war, musste die Tarnung nicht perfekt sein. Es reichte, wenn die Tarnung sich in das fügte, was die Deutschen erwarteten: eine dicke mallorquinische Nachbarin in ausgelatschten Asics, die in ihrer malerisch heruntergekommenen Finca ihr eigenes Olivenöl machte, freundlich, aber nicht herzlich. Und dafür, beschloss die Senyora, musste es reichen, wenn sie ab sofort das Olivenöl in Zehn-Liter-Plastikkanistern im Eroski-Supermarkt kaufte und bei sich im Schuppen in gereinigte Weinflaschen umfüllte. Niemand würde sie sehen, wenn sie mit dem Seat bis an den Schuppen heranfuhr und die leeren Kanister gleich anschließend zum gelben Container an der nächsten Feldwegkreuzung brachte.
    Sie drückte die Fortuna auf dem hüfthohen Steinmäuerchen aus, das ihr Grundstück begrenzte. Mit

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