Treibland
fassen können, aber der dennoch deutlich war. Durch ein seltsam pulsierendes dunkelrotes Band von Kopfschmerzen sah er, dass im Zimmer, das nach Frau roch, zwei, drei Reiseführer und ein Notizbuch auf dem Nachttisch lagen. Afrika (Osten), Schottland & Nordengland, Elbsandsteingebirge. Er beugte sich über das Notizbuch, und als er es vorsichtig öffnen wollte, überkam ihn der fast unbezwingbare Drang, sich auf das unberührte oder sehr frisch gemachte Bett zu legen, nein: zu werfen, sein Gesicht zu vergraben im Kopfkissen einer fremden Frau. Seitdem er das Wohnzimmer verlassen hatte, waren vielleicht zwei Minuten vergangen. Er biss die Zähne zusammen, bis er ein hohes Sirren in den Ohren hörte, dann atmete er tief ein und griff nach dem Notizbuch. Es war klein und dunkelrot, und nur die ersten beiden Seiten waren groß und hin- und herwogend mit Bleistift vollgeschrieben.
so weit weg
immer Zeit für die beiden
sind immer da und nie
keine Zeit mehr
viele Fehler gemacht
größter Stolz, das zuzugeben
–> alles andere schwach
Fehler aus Liebe, Fehler aus Wut
(Wut=Liebe)
aber nie nie nie aus Angst
Mit der anderen Hand angelte Danowski sein Telefon aus der Hosentasche und machte zwei Fotos von den Notizen. Dann legte er das Buch achtlos wieder auf den Reiseführer. Nur Zwangsneurotiker merkten sich genau, wie etwas irgendwo gelegen hatte.
Zwischen den beiden Schlafzimmern lag das Bad. Zwei Türen, zwei Waschbecken. Er stützte sich auf das rechte, von dem aus er den Medizinschrank öffnen konnte. Er war verschlossen. Danowski tastete auf der staubigen Oberseite, bis er den kleinen Sicherheitsschlüssel fand, wobei er peinlich darauf achtete, sein eigenes blasses Gesicht nicht im makellos geputzten Badezimmerspiegel anzuschauen. Inmitten von allerlei Unnützem fand er eine flache Packung Adumbran. Daneben lag eine 50 er-Schachtel mit generischem Ibuprofen 400 . Danowski nahm drei Tabletten und schob die Packung zurück. Seine Hand berührte das Adumbran, und wie im Traum nahm er das Beruhigungsmittel aus dem Schrank und öffnete die flache Schachtel. Von den zehn Tabletten waren noch sieben in ihrem Blister. Sieben war eine Anzahl, die man sich merkte. Andererseits, wer Schlaf- und Beruhigungstabletten nahm, konnte leicht den Überblick verlieren. Er beschloss, zwei Tabletten herauszunehmen, für den Notfall. Er staunte darüber, wie leicht es ihm gefallen war, vom Rumschnüffler zum Tablettendieb zu werden. Es war immer ein seltsamer Augenblick, wenn man feststellte, dass etwas, was man nie für möglich gehalten hatte, gut möglich und gar nicht schwer war. Er schüttelte den Kopf, was wehtat, und legte den Schlüssel sorgfältig wieder oben auf den Medizinschrank. Dann schluckte er die Ibuprofen mit ein wenig Wasser direkt aus dem Hahn und ließ die Adumbran-Tabletten in seiner Jackett-Tasche verschwinden. Als er ein wenig Staub von seinen Fingern in fast genießerischen Zügen an einem dunkelgrauen Frotteebademantel abstreifte, wurde ihm klar, dass er trödelte. Mit leichten Schritten eilte er ins Erdgeschoss. Schon das Versprechen von Linderung erfüllte ihn mit Zuversicht.
Übermütig öffnete er noch die Tür neben der zum Wohnzimmer. Der Raum dahinter war fast dunkel, schwere Rollos hingen vor den Fenstern, sodass das Licht am Rand in schmalen langen Schäften ins Zimmer fiel. Es roch nach Farbe und Pinselreiniger, der Boden war mit einem grauen Estrich ausgegossen, auf dem Farbspritzer und Spuren durcheinandergingen. Leinwände in verschiedenen Größen standen mit ihren Gesichtern zur Wand, dazwischen Skulpturen, die mit dunklem Tuch verhängt waren. Der größte Teil des Raumes war frei, vor dem Fenster stand ein Tisch, auf dem Fotos und aufgeschlagene Bücher lagen: Anatomieatlanten, Medizinlexika. Danowski trat ein paar Schritte in den Raum, um das Bild auf der Staffelei sehen zu können: ein Junge und ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt oder jünger, als Brustbild im Stil klassischer Porträts vor vagen Bäumen, aber ganz in verschiedenen Grau- und Sepiatönen gemalt, wie die Parodie einer alten Fotografie. Die beiden Kinder schauten schräg am Betrachter vorbei mit einer tapfer unterdrückten Traurigkeit im Blick, als wären sie beim Sitzen für das Porträt ausgeschimpft worden. Das Bild war noch nicht fertig, ihre Kleidung war nur skizziert, und unter ihrer scheinbar transparenten Gesichtshaut meinte Danowski die Knochen zu sehen, Jochbein, Nasenbein und Stirnbein, lauter
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