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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Gleichgewicht eingependelt, und das ließ Iwanows Selbstmord nur noch rätselhafter erscheinen.
    Unterdessen las Schenja mit näselnder Stimme sein Lieblingsmärchen vor. Es handelte von einem Mädchen, das von seinem Vater im Stich gelassen und von seiner Stiefmutter tief in den Wald geschickt wurde, wo es von der Hexe Baba Jaga getötet und verspeist werden sollte.
    »Baba Jaga hatte eine lange blaue Nase und Zähne aus Stahl, und sie wohnte in einer Hütte, die auf Hühnerbeinen stand. Die Hütte konnte durch den Wald laufen und dort stehen bleiben, wo Baba Jaga es befahl. Rings um die Hütte verlief ein Zaun, der mit Totenköpfen geschmückt war. Die meisten Opfer starben beim bloßen Anblick Baba Jagas. Die stärksten Männer ebenso wie die reichsten Herren. Sie kochte ihr Fleisch, bis es sich von den Knochen löste, und wenn sie den letzten Bissen verspeist hatte, steckte sie ihre Schädel zu den anderen auf den grässlichen Zaun. Nur wenige Gefangene lebten so lange, dass sie einen Fluchtversuch unternehmen konnten, doch Baba Jaga ritt ihnen in einem Zaubermörser mit Stößel nach und holte sie ein.« Aber dem mutigen Mädchen glückte dank seiner Freundlichkeit die Flucht. Sie fand zu ihrem Vater zurück, und der jagte die böse Stiefmutter fort. Als Schenja mit der Lektüre fertig war, warf er Arkadi einen kurzen Blick zu und lehnte sich im Sitz zurück. Das Ritual war beendet.
    Am Sperlingsberg kam die Moskauer Universität in Sicht, einer von Stalins Wolkenkratzern, der im Streben nach höherer Bildung von Sträflingen errichtet worden war und so große Verluste an Menschenleben gefordert hatte, dass man Leichen im Fundament einbetonierte. Erzählte man sich jedenfalls. Aber das war eine andere Geschichte, die Arkadi lieber für sich behielt.
    »Hattest du eine schöne Woche?«, fragte er.
    Schenja antwortete nicht. Dennoch versuchte es Arkadi mit einem Lächeln. Schließlich waren viele Heimkinder vernachlässigt und misshandelt worden. Man konnte nicht erwarten, dass sie kleine Wonneproppen waren. Manche Kinder aus dem Heim wurden adoptiert. Mit seiner spitzen Nase und seinem Schweigegelübde war Schenja kein aussichtsreicher Kandidat.
    Arkadi hätte sich schwerer zufrieden stellen lassen, wenn er von sich als Kind eine höhere Meinung gehabt hätte. Soweit er sich erinnerte, war er ein unleidlicher Junge gewesen, verschlossen, einsam und in ständiger Angst vor dem Vater, einem Armeeoffizier, der sich nicht scheute, Erwachsene zu demütigen, ganz zu schweigen von einem Jungen. Wenn Arkadi in die elterliche Wohnung kam, spürte er schon an der Unbewegtheit der Luft, ob der General zu Hause war. Die Diele selbst schien den Atem anzuhalten. Daher hatte Arkadi wenig persönliche Erfahrung, aus der er nun schöpfen konnte. Sein Vater hatte nie Ausflüge mit ihm unternommen. Hin und wieder war Feldwebel Below, der Adjutant seines Vaters, mit ihm in den Park gegangen. Im Winter war das besonders schön, wenn ihn der Sergeant, stapfend und schnaubend wie ein Pferd, auf einem Schlitten durch den Schnee zog. Sonst nahm ihn seine Mutter auf Spaziergänge mit, aber sie neigte dazu vorauszugehen, eine schlanke Frau mit dunklem Zopf, die in ihrer eigenen Welt lebte.
    Schenja bestand immer darauf, dass sie in den Gorki-Park gingen. Sowie sie die Eintrittskarten gekauft und das Gelände betreten hatten, wartete Arkadi etwas abseits, während Schenja allein um den Brunnenplatz schlenderte und dabei mit den Augen die Menge absuchte. Wollige Pappelsamen trieben auf dem Wasser und sammelten sich rings um die Buden. Krähen staksten auf der Suche nach Brotkrümeln umher. Offiziell war der Gorki-Park ein Kulturpark mit Promenaden, in dem überwiegend klassische Freiluftkonzerte geboten wurden. Mit der Zeit waren der Orchesterpavillon von Rockbands und die Promenaden von Fahrgeschäften in Beschlag genommen worden. Wie stets kehrte Schenja bedrückt vom Brunnen zurück.
    »Komm, wir schießen etwas«, schlug Arkadi vor. Im Allgemeinen heiterte das den Jungen auf.
    Fünf Rubel für fünf Schuss mit einem Luftgewehr auf eine Reihe Colabüchsen. Arkadi dachte an die Zeit, als die Ziele noch an Fäden baumelnde amerikanische Bomber waren, auf die zu ballern sich lohnte. Nach der Schießbude besuchten sie ein Gruselkabinett, in dem sie zwischen müdem Gestöhne und wackelnden Fledermäusen durch einen finsteren Flur gingen. Als Nächstes kam eine echte Raumfähre, die tatsächlich einmal die Erde umkreist hatte und mit Sitzen

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