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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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ausgestattet war, die hin und her wackelten, um einen unruhigen Landeanflug zu simulieren.
    »Was meinen Sie, Kommandant?«, fragte Arkadi. »Sollen wir zur Erde zurückkehren?«
    Schenja erhob sich aus seinem Sessel und marschierte ohne einen Blick hinaus.
    Arkadi kam sich ein wenig so vor, als begleite er einen Schlafwandler. Er war dabei, aber unsichtbar, und Schenja bewegte sich wie auf Schienen. Wie bei jedem Besuch blieben sie bei den Bungeespringern stehen und sahen ihnen zu. Die Springer waren Teenager. Sie drehten sich, wenn sie von der Plattform stürzten, ruderten mit den Armen und kreischten vor Angst, ehe sie im letzten Augenblick, bevor sie auf dem Boden aufschlugen, von den elastischen Seilen zurückgerissen wurden. Einen besonders dramatischen Anblick boten Mädchen, deren Haar auf dem Weg in die Tiefe flatterte und nach unten peitschte, wenn der Fall jäh gestoppt wurde. Arkadi musste unwillkürlich an Iwanow denken, und an den Unterschied zwischen einer vergnüglichen Beinahetodeserfahrung und einem echten Todessprung. Was für ein gewaltiger Unterschied war es doch, ob man kichernd auf die Füße sprang oder auf dem Asphalt liegen blieb. Schenja hingegen war es anscheinend gleichgültig, ob die Springer starben oder am Leben blieben. Er stand immer an derselben Stelle und sah sich unschlüssig um. Dann schlug er den Weg zur Achterbahn ein.
    Er hielt stets dieselbe Reihenfolge ein: Achterbahn, eine riesige Schaukel und eine Fahrt im Tretboot rund um einen künstlichen Teich. Er und Arkadi lehnten sich zurück und strampelten so wie jedes Mal, während abwechselnd schwarze und weiße Schwäne ihren Weg kreuzten. Obwohl Sonntag war, herrschte im Park eine beschauliche Stimmung. Inlineskater glitten mit leichten, ausgreifenden Schritten vorüber. Beatles-Musik rieselte aus Lautsprechern. »Yesterday«. Schenja schwitzte, aber Arkadi hütete sich, dem Jungen zu sagen, er solle die Mütze abnehmen und die Jacke ausziehen.
    Der Anblick silberner Birken am Ufer brachte Arkadi auf die Frage: »Warst du schon mal im Winter hier?«
    Schenja hätte taub sein können.
    »Läufst du Schlittschuh?«
    Schenja blickte stur geradeaus.
    »Eislaufen ist hier schön im Winter«, sagte Arkadi. »Vielleicht sollten wir das mal machen.« Schenja verzog keine Miene.
    »Verzeih mir«, sagte Arkadi, »aber ich kann es nicht besser. Ich war noch nie ein guter Witzeerzähler. Mir fallen einfach keine ein. In Sowjetzeiten, als alles hoffnungslos war, hatten wir wunderbare Witze.«
    Da Schenja im Heim gesunde, nahrhafte Kost erhielt, mästete Arkadi ihn mit Schokoriegeln und Limonade. Sie aßen an einem Tisch im Freien und spielten dabei Schach mit abgegriffenen Figuren und einem an mehreren Stellen geklebten Brett. Schenja sagte nicht einmal »Schach!«. Zu gegebener Zeit warf er einfach Arkadis König um und stellte die Figuren wieder auf.
    »Hast du es mal mit Fußball versucht?«, fragte Arkadi. »Oder Briefmarken gesammelt? Besitzt du ein Schmetterlingsnetz?«
    Schenja konzentrierte sich auf das Brett. Von der Heimleiterin wusste Arkadi, dass er jeden Abend allein Schachprobleme löste, bis das Licht gelöscht wurde.
    »Du wunderst dich vielleicht«, erklärte Arkadi, »wieso ein Chefinspektor wie ich an einem so herrlichen Tag frei hat. Das kommt daher, dass der Staatsanwalt, mein Vorgesetzter, der Meinung ist, dass ich eine neue Aufgabe brauche. Es ist offensichtlich, dass ich eine neue Aufgabe brauche, denn ich weiß nicht, wann ich es mit einem Selbstmord zu tun habe. Ein Ermittler, der nicht weiß, wann er es mit einem Selbstmord zu tun hat, braucht eine neue Aufgabe.«
    Arkadi flüchtete mit seinem Springer auf eine nutzlose Position am Rand des Bretts. Schenja schaute auf, als wittere er eine Falle. Keine Sorge, dachte Arkadi.
    »Sagt dir der Name Pawel Iljitsch Iwanow etwas?«, fragte er.
    »Nein? Oder Pascha Iwanow? Der Name macht mehr her. Pawel ist altmodisch, abgedroschen. Ein Pascha ist ein Orientale mit Turban und Säbel. Das klingt viel besser als Pawel.«
    Schenja stand auf und besah sich das Brett aus einem anderen Blickwinkel. Arkadi hätte aufgeben können, doch er wusste, wie gern Schenja seine Siege auskostete.
    »Es ist schon merkwürdig«, fuhr er fort, »aber wenn du einen Menschen ausreichend lange studierst, wenn du dir genug Mühe gibst, ihn zu verstehen, kann er ein Teil deines Lebens werden. Kein Freund, aber eine Art guter Bekannter. Oder anders ausgedrückt, du musst ihm nahe kommen. Habe ich

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