Treue in Zeiten Der Pest
der Tradition und erweiterten und ergänzten die antiken Theorien. In dieser Zeit erlangten die Mediziner al-Razi (lat. Rhazes, gestorben 925), Ali ibn Abbas (lat. Hali Abbas, gestorben 994), Isaak Judaeus (um 850-950) und Ibn Sina (lat. Avicenna, 980-1037) durch ihre Schriften weit reichende Bedeutung, die später auch in die christliche Welt ausstrahlen sollte. So wurde beispielsweise Avicennas Canon medicinae, nachdem er im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt worden war, zum grundlegenden Werk der medizinischen Wissenschaft – ein Status, den es bis zum 17. Jahrhundert behaupten konnte.
Die zweite Phase der arabischen Medizin liegt im 11. und 12. Jahrhundert. In dieser Zeit entwickelte sich vor allem eine größere Eigenständigkeit in heilkundlicher Theorie und Praxis im heutigen Spanien. Besondere Bedeutung erlangten die Medizinphilosophie, Botanik, Diätetik, Heilmittelkunde und die Chirurgie. Getragen wurde diese Entwicklung von dem Chirurgen Abu-l-Quasim (lat. Abulkasim, gestorben 1013), dem Arzt Ibn Ruschd (lat. Averroes, 1126-1198) und dem jüdischen Gelehrten Moses Maimonides (1135/38-1204).
Maimonides ist ein typischer jüdischer Mediziner des Mittelalters, dessen weit verbreitete Schriften selbst im späten Mittelalter noch einflussreich waren. Mit der Medizin hatte sich Maimonides zunächst nur aus reinem Wissensdrang beschäftigt – er sah in ihr eine der Vorstufen zur Gotteserkenntnis, da die körperliche Gesundheit seiner Meinung nach die Gesundheit der Seele förderte. Als der Gelehrte in finanzielle Not geriet, begann er um das Jahr 1170 jedoch auch, sich als Arzt zu verdingen. Etwa 16 Jahre später konnte er sich rühmen, Leibarzt al-Fadils, des Sekretärs von Sultan Saladin, zu sein und die vornehmsten Patienten zu behandeln, später sogar den Sultan selbst. Diese Arbeit nahm ihn allerdings sehr in Anspruch. So schrieb er einmal in einem Brief: »Ich habe ein schweres Amt beim König. Ich muss ihn täglich bei Tagesbeginn untersuchen. […] Im Allgemeinen reite ich täglich am frühen Morgen nach Kairo, wenn dort nichts Besonderes vorliegt, kehre ich am Nachmittag nach Fostat zurück, niemals vorher. Ich komme hungrig an. Ich finde die Wartebänke voll mit Menschen, Juden und Nichtjuden, berühmte und weniger berühmte, Richter und Offiziere, Freunde und Feinde. […] Dann gehe ich hinaus, sie zu behandeln, Rezepte gegen ihre Leiden zu verordnen. Das geht so bis in die Nacht […]« [zit. n. Muntner, 1966, S. 133]. Neben dieser Praxistätigkeit fand Maimonides noch Zeit, zahlreiche medizinische Werke zu verfassen, die seinen Ruhm in allen Kulturkreisen des Mittelalters begründeten. Darin stützte er sich nicht allein auf die Theorien der antiken Vorbilder, sondern zog auch die Werke anderer Ärzte seiner Zeit heran, die wie er eigenständig arbeiteten. Maimonides’ wichtigste Grundsätze waren die Ablehnung jeglichen Aberglaubens in medizinischen Fragen und die Zurückweisung aller Lehren, die Krankheiten als ein von Gott gesandtes Schicksal darstellten, das widerspruchslos hinzunehmen sei. Aufgrund der beschränkten Möglichkeiten der Behandlung von Krankheiten war ihm zudem der Erhalt der Gesundheit durch vorbeugende Maßnahmen äußerst wichtig – eine Haltung, die allen großen Medizinern des Mittelalters eigen war. Allerdings blieb auch Maimonides der Viersäftelehre verpflichtet.
Die schrittweise Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch die Christen und die Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 setzten der blühenden arabisch-islamischen Wissenschaftskultur ein jähes Ende. Die mittelalterlichen Wissenschaften – und somit auch die mittelalterliche Medizin – erfuhren dadurch einen empfindlichen Einbruch. Erst viele Jahrhunderte später konnte an die fruchtbare Entwicklung wieder angeknüpft werden.
In Europa nahmen die Wissenschaften im Mittelalter eine nicht annähernd vergleichbare Stellung ein wie im Vorderen Orient. Wissen verbreitet und Forschung betrieben wurden hier zunächst nur in den Klöstern, und so waren diese Beschäftigungen den Dogmen des christlichen Glaubens unterworfen, die eine freie Weiterentwicklung der antiken Theorien nur eingeschränkt zuließen und schließlich sogar völlig zu unterbinden suchten. Erst als die Medizin ab dem 12. Jahrhundert säkularisiert wurde und ab dem 13. Jahrhundert über Spanien und die Mauren Einflüsse der hoch entwickelten arabischen Medizin nach Mittel- und Westeuropa kamen,
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