Treuepunkte
»Hallo, ihr Süßen«, begrüßt er die beiden und herzt sie demonstrativ, als wäre er von einem mehrwöchigen Survival-Training gerade eben heimgekehrt. Was soll mir das jetzt zeigen? Ich kann zärtlich sein – wenn ich nur will, oder was? Oder ist es eine kleine Strafe? Ich denke nicht daran, mich mit irgendwelchem Smalltalk
aufzuhalten, und wenn er meint, kühl sein zu müssen – das kann ich auch. »Wo warst du heute Nacht?«, frage ich so sachlich wie möglich und schere mich einen Dreck darum, ob die Kinder irgendwas mitbekommen. Ich kann mich einfach nicht beherrschen. »Na, wo wohl. Da, wo du mich hingeschickt hast!«, antwortet Christoph ebenso beiläufig und ich könnte auf der Stelle einen Schreikampf kriegen. Was soll denn das heißen? Bei Michelle? Hat der sie noch alle? »Habe ich das jetzt richtig verstanden?«, verschlüssele ich die nächste Frage ein wenig, sicherlich auch in der Hoffnung, dass er jetzt lacht, »Quatsch« sagt und mich in die Arme schließt. Von wegen. Er geht in Richtung Treppe und sagt nur: »Ich denke schon, Andrea. Da war ja nichts zum Missverstehen.«
Mein Mann übernachtet bei Belle Michelle, meldet sich den gesamten nächsten Tag nicht und erscheint schließlich am Abend zu Hause, als sei nichts gewesen. »Und, war’s schön?«, brülle ich ihm hinterher. Der Gnädigste ist auf dem Weg ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Raus aus dem Anzug, rein in Legereres. »Ja, danke der Nachfrage, alles bestens! Sogar sehr schön, wenn du es genau wissen willst!«, brüllt er zurück. Ich will es genau wissen, aber irgendwie auch nicht. Was diese Information angeht, bin ich durchaus ambivalent. Eins ist aber eindeutig: Ich fühle mich grauenvoll und möchte hinterherrennen und ihn gründlich durchschütteln. Ich möchte heulen, schreien oder ihn direkt rausschmeißen. Aber ich bleibe, wie gelähmt, im Wohnzimmer stehen. Ich bin handlungsunfähig, wahrscheinlich weil ich so dermaßen fassungslos bin. Bei allen Horrorvisionen, was diese Nacht angeht, habe ich dennoch nicht wirklich damit gerechnet,
dass Christoph bei Belle Michelle ins Bettchen schlüpft. Die Kinder sind verwirrt. »Was ist denn?«, fragt Claudia. Ich sage »Nichts« und gucke so streng, dass sich jegliche Nachfragen erübrigen. Am liebsten würde ich einfach gehen. Rein in die Schuhe und raus aus der Tür. Damit er mal sieht, wie das ist, wenn jemand einfach so verschwindet. Würde ich noch rauchen, könnte ich, wie in all diesen Filmen, wenigstens eben mal Zigaretten holen gehen. Aber wohin dann? Schnell nach München fahren zu meiner Heike? Das geht so mir-nichts-dir-nichts leider nicht. Was mache ich dann mit den Kindern? Obwohl – es sind ja schließlich auch seine Kinder. Aber diese durchaus verlockende Flucht lässt mein Mütterherz nicht zu. Noch nicht!
Aber ich kann doch nicht hier stehen, Brot schneiden fürs Abendessen, Aufschnitt aus dem Kühlschrank holen und einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen! Andererseits gilt es, bei häuslichen Extremfällen die Fassung zu bewahren und mit Kalkül zu handeln. Ich decke also den Tisch, schneide sogar noch ein paar Gurken und Tomaten auf und hole dem Gatten ein Bier. Ich fühle mich wie eine ferngesteuerte, perfekte Mutti. Ihn zum Essen zu rufen, bringe ich dann doch nicht fertig. Ich schicke Claudia. Während wir stumm um den Tisch sitzen und Brote verzehren, denke ich nach.
Was der kann, kann ich auch! Ich werde nicht wie eine eifersüchtige, gekränkte, beleidigte, hasserfüllte und gedemütigte Ehefrau wegrennen oder auf dem Sofa liegen und mich im Selbstmitleid suhlen. Obwohl ich genau das bin: Eine verdammt eifersüchtige, gekränkte, beleidigte, hasserfüllte und gedemütigte Ehefrau. Die normale Reaktion
wäre eine Szene – mit allem Drum und Dran. Schreien, weinen und natürlich drohen: »Ich verlasse dich, du Schwein, ich nehme die Kinder und all dein Geld und sogar deinen Scheiß- BMW . Dann kann deine Michelle hier die Gürkchen schneiden.« Genau das würde ich nur zu gerne brüllen. Aber genau das werde ich nicht tun. Ich werde mich anders rächen. Ich werde diesem gefühllosen Grobian, der, wie überaus trivial, seine Kollegin bespringt, zeigen, was emotionale Schmerzen sind. Und dieser miesen Kröte Belle Michelle werde ich es auch zeigen. Den Turteltäubchen bereite ich die Hölle auf Erden. Der wird noch im Dreck kriechen, um mich, Andrea Schnidt, zurückzubekommen. »Haben wir keine hart gekochten Eier?«, richtet der
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