Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
ähnelte, das mir Sarah Miller mitgegeben hatte. Wie es aussah, würde ich mich diesmal weitgehend auf mein Superheldinnen-Improvisationstalent verlassen müssen. Ich blätterte noch einmal flüchtig die Mappe durch, um mir einige letzte Details einzuprägen, dann holte ich den Schlüssel für die unterste Schublade aus seinem Versteck und sperrte sie auf. Ich nahm eines meiner schwarzen Kärtchen heraus, strich mit der Fingerkuppe über das leicht erhabene rote A auf der Vorderseite, dann drehte ich es um und betrachtete die gebührenfreie Telefonnummer auf der Rückseite. Die Nummer, die Daniel Miller noch heute Nacht wählen würde, sollte er beschließen , beim Test durchzufallen. Die Nummer, die alle durchgefallenen Kandidaten wählen.
Und doch hoffe ich jedes Mal, wenn ich eine meiner schwarzen Karten hervorhole, dass sie nicht zum Einsatz kommt.
Wann immer ich eine davon in meine Handtasche stecke, ehe ich mich auf den Weg mache, stelle ich mir vor, wie ich das Lokal verlasse, in dem mich mein Testobjekt gerade abgewiesen
hat, und sie triumphierend in einen Abfalleimer werfe.
Leider landen jedoch die meisten meiner Karten nicht in einem Abfalleimer …, sondern in den Händen eines durchgefallenen Kandidaten.
Ich schob die Karte in meine rote Louis Vuitton und hetzte ins Wohnzimmer, wo ich hastig Schlüsselbund, Portemonnaie und meine Telefone zusammensuchte. Dann konnte es losgehen.
Daniel Miller saß allein an einem der hinteren Tische der Bar und starrte Löcher in die Luft. Er wirkte besorgt und nachdenklich. Einsam. Das halb leere Glas dagegen, das er umklammert hielt, hatte reichlich Gesellschaft.
Für jeden anderen musste es aussehen, als hätte er kurz zuvor seine Gesprächspartner mit einer rüden Bemerkung so brüskiert, dass sie stante pede das Weite gesucht hatten. Für mich sah es genau so aus, wie Mrs. Miller es beschrieben hatte: Danach bleibt er gern noch auf einen Drink sitzen . Die Geschäftspartner, die sie erwähnt hatte, mussten bereits gegangen sein, und seiner Miene nach zu urteilen war das Meeting nicht gerade nach seinen Vorstellungen verlaufen. Ich dachte an ihre Bitte, das Thema Entlassung nicht zu erwähnen. Ich würde mich hüten.
Meine schwarze Karte brannte mir förmlich ein Loch in die Handtasche, als ich selbstbewusst auf seinen Tisch zuging. Ich musste ihn nur dazu bringen, mich mit nach oben zu nehmen. Laut seiner Gattin kam es, wenn er ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte, schon mal vor, dass er sich lieber ein Zimmer nahm, statt die lange, gefährliche Fahrt in den Canyon anzutreten.
Ein Mann, der gern einen über den Durst trank und regelmäßig im Hotel übernachtete – in der Stadt, in der er lebte -,
das würde jeder Ehefrau zu denken geben. Kein Wunder, dass sie mich angerufen hatte.
Eine Bar zu betreten, in der ein Testobjekt sitzt, ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit dem Auftritt auf einer Theaterbühne. Ich werfe mich in Positur, um die Ashlyn zu geben. Für Uneingeweihte wie Daniel Miller ist Ashlyn natürlich keine Protagonistin in einem Theaterstück, sie ist real. Eine junge Frau in einer Bar.
Ich atmete tief durch, rief mir noch einmal in Erinnerung, welche Rolle ich heute spielte, und betrat die Bühne, sprich, ich schlenderte langsam auf Daniel Millers Tisch zu. Es galt, die Aufmerksamkeit meines erlesenen Publikums zu erregen.
Doch mein Publikum war geistesabwesend. Daniel Miller schenkte mir keinerlei Beachtung, meiner sorgfältig ausgewählten Garderobe zum Trotz.
Also hielt ich, um Zeit zu schinden, in einem halben Meter Entfernung von seinem Tisch inne und kramte ausführlich in meiner Handtasche, ehe ich meinen Weg fortsetzte. Vergeblich. Daniel Miller hob nicht einmal den Kopf.
Da wusste ich, ich musste ausnahmsweise auf einen Trick zurückgreifen, den ich nur in äußersten Notfällen anwende. Dies war eindeutig ein Notfall. Ich konnte ja unmöglich zurück zu meinem Wagen gehen, die Hose gegen einen Minirock austauschen und ein zweites Mal an Mr. Miller vorbeistolzieren in der Hoffnung, dass er reagieren würde, wenn ich etwas mehr Bein zeigte.
Nein. Ich würde stolpern müssen.
Also stolperte ich.
Und zwar – Überraschung! – geradewegs in die Arme von Mr. Miller. Und er fing mich auf.
»Oh!«, rief ich und klammerte mich an die Rückenlehne der Sitzbank. »Bitte entschuldigen Sie vielmals!«
»Alles in Ordnung?«, fragte er und stützte mich, während ich mich aufrichtete.
»Ja, ja«, sagte ich verlegen.
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