Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
ich meine Taschen auf den Boden plumpsen und wankte ins Schlafzimmer wie ein Betrunkener nach einer langen, alkoholgeschwängerten Nacht.
War ja auch nicht allzu weither geholt – zwanzig Flugstunden in der Touristenklasse hatten ähnliche Auswirkungen.
Ich ließ mich auf das Bett fallen. Als ich den Kopf zur Seite wandte, sah ich das rote Licht am Anrufbeantworter blinken. Am liebsten hätte ich mich herumgewälzt und das blöde Ding in den Mülleimer geworfen. Stattdessen redete ich mir ein, die darauf befindliche Nachricht könnte ja zufällig meine Laune etwas heben. Vielleicht hatte ja jemand zur Abwechslung gute Neuigkeiten für mich.
Also schwang ich den Arm auf den Nachttisch, wobei ich ein paar Bücher und eine Flasche Hautlotion zu Boden fegte, und drückte die Wiedergabe -Taste.
Nach einigen Sekunden ertönte Hannahs jugendlich unbeschwerte Stimme. »Hey, Jen! Ich bin’s. Du weißt ja, nächste Woche ist Halloween, und ich wollte dir nur sagen, dass ich dieses Jahr zum allerletzten Mal auf Beutezug gehen werde. Nächstes Jahr bin ich dann schon dreizehn, und Olivia meinte, mit dreizehn könnte man auf keinen Fall mehr von Tür zu Tür gehen und um Süßigkeiten betteln.«
Na, also, sagte ich mir. Meine süße kleine Nichte schafft es mit ihrer unschuldigen Art und ihren trivialen Problemchen doch immer, mich aufzuheitern.
»Übrigens«, fuhr Hannah fort. »Der geheimnisvolle Briefschreiber hat mir wieder einen Brief geschickt …«
Hastig hob ich die Hand und stellte den Anrufbeantworter ab. Tolle Idee. Ich hätte es wissen müssen. Niemand , der mich anruft, hat jemals Erfreuliches zu berichten. Ich zog schlechte Nachrichten an wie ein Magnet. Und zwar keiner dieser kleinen Kühlschrankmagneten, die aussehen wie Teekannen oder Hotdogs, nein, einer von den riesigen Starkstrommagneten, wie sie die NASA entwickelt, um damit Raketen ins Weltall zu schießen.
Ich wollte bloß noch vergessen. Alles verschwinden lassen. Ich musste schlafen. Eine andere Möglichkeit zu vergessen fiel mir nicht ein.
Als ich aufwachte, zeigte mein Radiowecker zwei Uhr fünfundvierzig. Nachts oder nachmittags, das war hier die Frage. Ich hatte keine Ahnung. Mein Zeitgefühl war total dahin. Aber es kratzte mich ehrlich gesagt wenig. Was verpasste ich schon groß? Einen neuen Auftrag? Wohl kaum. Das war vorbei. Ein Date mit Jamie? Nö. Das war definitiv vorbei.
Zeit ist ohnehin bloß eine Illusion. Zeitzonen, Sommerzeit, Winterzeit, das sind doch alles vom Menschen erdachte Definitionen, die dafür sorgen sollen, dass keiner aus der Reihe tanzt. Und natürlich, dass alle pünktlich sind.
Denn wie sollten wir ohne die Zeit einen Termin vereinbaren oder ein Date? Wie sollten wir die Entfernungen in Südkalifornien angeben?
Aber damit war jetzt Schluss. Ich griff nach dem Weckerkabel und riss brutal den Stecker aus der Steckdose.
Ich würde der erste Mensch sein, der völlig zeitlos lebte. Ich würde rebellieren. Mich gegen die Institution Zeit auflehnen. Gegen das System aufbegehren.
Einstein zufolge existiert eine absolute Zeit überhaupt nicht.
Warum sollte ich mein ganzes Leben an etwas ausrichten, das nur relativ ist?
Ich würde schlafen, wenn ich müde war, essen, wenn ich hungrig war, und gucken, was immer mein TiVo aufgenommen hatte, wenn mir langweilig war. Die Zen-Übung des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Im Moment war mir allerdings nur nach Schlafen.
Schon die Vorstellung, meine Handys aus der Tasche zu kramen und all die (zweifellos schlechten) Nachrichten abzuhören, die man mir in der Zwischenzeit hinterlassen hatte, fand ich ermüdend.
Und bei dem Gedanken, aufzustehen und mir aus dem Kühlschrank etwas zu essen zu holen, erwachte in mir nur der Wunsch, erneut die Augen zu schließen und weiterzuschlafen.
Also tat ich genau das.
Irgendwann riss mich das Klingeln meines Festnetztelefons aus dem Schlaf.
»Hallo?«, murmelte ich benommen.
»Guten Morgen, Jenny!«, schallte die fröhliche Stimme meiner Mutter durch die Leitung.
»Hi, Mom.«
»Hast du etwa noch geschlafen?«
Ich sah auf meinen Radiowecker. Das Display war schwarz. Ach, richtig, ich hatte ihn in meiner Zeit-ist-eine-Illusion-Phase vor ein paar Stunden ausgesteckt. Oder war das schon Tage her? Ich sank in die Kissen zurück, die Hand auf der Stirn. »Wie spät ist es?«
»Halb zwölf«, erwiderte meine Mutter.
»Oh.«
»Hast du deinen Vater schon angerufen?«
Ich zog mir das Kissen über den Kopf. »Nein, und ich hab auch
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