Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
nicht vor, es zu tun.«
»Du wolltest es dir doch zumindest überlegen.«
Ich pfefferte das Kissen auf den Boden. »Na, und? Ich werde meine Meinung ja wohl ändern dürfen, oder?«
Es entstand eine lange, bedeutungsschwangere Pause. »Ich finde, es ist allmählich an der Zeit, dass du erwachsen wirst und dich auch so benimmst, Jenny«, sagte sie schließlich. Ich konnte ihr die Enttäuschung anhören.
Ihre Worte versetzten mir einen Stich. »Ich habe mich die vergangenen sechzehn Jahre wie eine Erwachsene benommen, Mom. Wenn irgendjemand das Recht hat, sich in Selbstmitleid zu suhlen und wie ein Kind zu benehmen, dann ich!«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht, wovon du redest, aber du wirst lernen müssen, deinem Vater zu verzeihen, sonst …«
»Sonst?« Ich schnellte hoch. »Was, Mom? Erzähl doch mal. Was passiert, wenn ich ihm nicht verzeihe? Niemals? Wenn ich den Rest meines Lebens sauer auf ihn bin? Wäre das wirklich so tragisch? Ich sage dir eines: Es wäre garantiert nicht so schlimm wie das, was er uns angetan hat. Unserer Familie. Und er hat es über zehn Jahre geheim gehalten. Wer weiß, vielleicht sogar noch länger. Das heißt für mich, ich habe ein Anrecht auf mindestens weitere acht Jahre Verbitterung und Wut, bis Dad und ich quitt sind. Das Einzige,
was ich je von ihm gelernt habe, ist, dass man Männern nicht über den Weg trauen kann. Und wenn man ihnen nicht über den Weg trauen kann, dann verdienen sie es auch nicht, dass man ihnen verzeiht!«
Schweigen. Ich fürchtete sogleich, zu weit gegangen zu sein. Doch gerade, als ich mich entschuldigen wollte, sagte sie: »Du bist offenbar noch nicht so weit, Schätzchen. Aber keine Sorge, das kommt noch.«
Ich wusste nicht, was ich von dieser Antwort halten sollte. Es kam mir vor, als hätte sich meine Mutter über Nacht in einen buddhistischen Mönch verwandelt. Nahm sie neuerdings im Gemeindezentrum Meditationsunterricht, oder worauf war dieses ganze Gerede von wegen »du musst lernen zu verzeihen« und »du bist noch nicht so weit« sonst zurückzuführen? Klang fast, als würde sie Passagen aus irgendeinem spirituell angehauchten Erziehungsratgeber zitieren.
»Ganz recht, Mom, ich bin noch nicht so weit. Und ich weiß nicht, ob ich es je sein werde.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, war ich noch übler gelaunt als vor dem Gespräch. Natürlich wollte Mom mir bloß helfen. So sind Mütter nun einmal. Aber ich war es nicht gewohnt, Hilfe von ihr zu bekommen. Klar, sie hatte mir bei den Hausaufgaben geholfen, sie hatte den Lehrern die Hölle heiß gemacht, wenn meine Leistungen unfair benotet worden waren, sie hatte mit mir die Deko für mein erstes Studentenheimzimmer ausgesucht. Aber ich war nie mit den großen Problemen zu ihr gegangen.
Die hatte ich immer allein gelöst.
Seit jeher hatte ich das Gefühl gehabt, auf mich gestellt zu sein, wenn es um persönliche Probleme ging. Und es gelang mir immer, sie allein zu lösen. Jedenfalls hatte ich das bis jetzt gedacht.
Doch wenn ich so über meinen Zustand nachdachte, konnte
ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man offenbar doch nicht alles allein bewältigen kann.
Ich hievte mich hoch und schlurfte ins Wohnzimmer. Dort sank ich auf das Sofa, um mir eine Folge von Das Hausbau-Kommando reinzuziehen, was mich sonst immer aufheitert. Doch diesmal blieb die erhoffte Wirkung aus. Selbst wenn ich sämtliche Folgen dieser Sendung anguckte, die mein TiVo für mich aufgezeichnet hatte, selbst wenn sich die weißen Satinlaken in meinem Wäscheschrank stapelten – meine Probleme würden sich nicht einfach in Luft auflösen. Da konnte ich noch so lange auf die Namensliste starren, die ich in meiner hölzernen Schatulle aufbewahrte. Es würde die Ereignisse der vergangenen Wochen nicht ungeschehen machen.
Ich sehnte mich nach den Zeiten, als in meinem Leben noch eine klare Trennung zwischen Ashlyn und Jen geherrscht hatte. Als ich noch wie auf Knopfdruck zwischen den beiden Persönlichkeiten hin und her wechseln und dank meines falschen Namens, meines Alter Egos alles hatte vergessen können: die Ehebrüche, die Seitensprünge, die sündhaften Berührungen verheirateter Männer.
Ashlyns Welt und Jens Welt waren Galaxien voneinander entfernt gewesen.
Ashlyns Welt hatte gar nicht wirklich existiert.
Doch nun war die Grenze, einst so solide und stabil wie die Berliner Mauer, offiziell in sich zusammengestürzt.
Jetzt war Ashlyns Welt real.
Jetzt war ich von ihren Angelegenheiten persönlich
Weitere Kostenlose Bücher