Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
ehrfürchtig.
»Na, planen Sie immer noch Ihre Karriere als Treuetesterin oder sind Sie inzwischen zur Besinnung gekommen?«
Sie lachte. »Bis jetzt leider nicht, nein.«
»Das freut mich zu hören. Für mich jedenfalls. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.«
»Im Ernst?«
»Ja. Besser gesagt, ich hätte da einen Auftrag für Sie. Haben Sie Interesse?«
»Selbstverständlich!«, sprudelte sie aufgeregt hervor, als hätte ich ihr gerade in Aussicht gestellt, ihr ein großartiges Geschenk zu machen.
Dabei war es genau umgekehrt – sie würde mir ein Geschenk machen. Ein äußerst zufriedenstellendes, beruhigendes Geschenk.
»Worum geht’s?«, fragte sie eifrig.
Ich atmete tief durch, dann begann ich, sämtliche Informationen aufzuzählen, die zu sammeln noch bis vor Kurzem
meine Aufgabe gewesen war: Beruf, Hobbys, Geschmack, Ausbildung, Mitgliedschaften, Lieblingsgetränke, Lieblingsclubs. Und zu guter Letzt nannte ich ihr den Namen des Testobjektes: Eric Fornell.
»Errätst du, wer ich bin?«, krähte Hannah aufgekratzt, sobald ich über die Schwelle getreten war. Sie sprang von der Couch auf und kam angerannt, um mich zu begrüßen. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß. Sie trug einen Jeansmini, kniehohe rote Stiefel und ein schwarzes Top mit U-Boot-Ausschnitt und einer großen roten Ansteckblume. Die blonden Locken hatte sie sich mit einer ganzen Packung Haarnadeln lose hochgesteckt.
»Ähm …« Jetzt war höchste Vorsicht geboten. Eine falsche Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« ist für verkleidete Kinder ja so ziemlich die schlimmste Beleidigung überhaupt.
Zum Glück war Hannah zu ungeduldig, um meine Antwort abzuwarten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin Carrie aus Sex and the City .«
»Ah«, machte ich und betrachtete noch einmal ihr Outfit. »Klasse!«
Sie erhob sich wieder auf die Zehenspitzen. »Olivia ist Samantha, Rachel ist Charlotte und Michelle ist Miranda, weil sie als Einzige rote Haare hat.«
»Das wird bestimmt ein Spaß.«
»Mom hat keine Ahnung«, erklärte sie leise. »Sie glaubt, ich hätte mich als Hannah Montana verkleidet.« Sie verdrehte die Augen und kicherte spöttisch.
Ich begrüßte Mom und Julia, stellte meine Siebensachen auf dem Esstisch ab und ließ mich aufs Sofa fallen. Ich hatte schon befürchtet, nach unserem letzten Telefonat könnte die Stimmung zwischen Mom und mir etwas angespannt sein, aber zu meiner Erleichterung benahm sie sich ganz normal.
»Warte!«, rief Hannah, kaum dass mein Hintern mit der Couch in Berührung gekommen war. »Ich muss dir was zeigen!«
Ich erhob mich etwas widerwillig und folgte ihr in die Küche, wo sie sich erst misstrauisch umsah, ehe sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihres Jeansrockes zog. »Das ist der zweite Brief, den ich bekommen habe«, flüsterte sie. »Wieder von demselben Absender.« Sie war sichtlich stolz auf ihre detektivische Spürnase.
Ich lächelte anerkennend und schickte mich an, den Brief zu entfalten. Mal sehen, wo mich Raymond Jacobs’ Fotograf diesmal aufgespürt hatte. Dann wurde mir klar, dass es seit meiner kleinen Überraschungsvisite völlig gleichgültig war. Raymond Jacobs konnte mir nichts mehr anhaben. Wozu sollte ich ihm die Genugtuung geben und mir den Brief überhaupt ansehen?
Also zerknüllte ich ihn stattdessen und warf ihn in den Mülleimer unter der Spüle.
Hannah verfolgte es so entsetzt, als hätte ich gerade das letzte Beweisstück zerstört, das zur Verurteilung eines Serienmörders hätte führen können. »Warum hast du das getan?«
»Weil es nicht mehr wichtig ist«, sagte ich nüchtern. »Ich habe die Angelegenheit geklärt.«
»Aber wer war der Absender, und warum hat er dir einen anderen Namen gegeben?«
Ich hatte mir die vergangenen drei Wochen den Kopf zermartert bei dem Versuch, mir eine glaubwürdige Story aus den Fingern zu saugen. Eine Story, mit der ich alles erklären, mein Geheimnis hüten und Hannah vor der kalten, grausamen Wahrheit bewahren konnte. Sie war eindeutig noch zu jung, um bereits mit der rauen Welt der Erwachsenen konfrontiert zu werden.
Irgendwann war mir klar geworden, dass mein Problem nicht darin bestand, eine Geschichte zu erfinden, mit der ich all ihre Fragen beantworten konnte. Mein Problem war, dass es keine solche Geschichte gab, weil ich mit der Annahme, Lügen seien besser als die kalte, grausame Wahrheit, schon völlig falsch
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