Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
die versuchte, ein Häufchen verlorener Seelen auf den richtigen Weg zurückzuführen. War das wirklich die gekränkte Ehefrau mit dem gebrochenen Herzen, das labile Opfer, das ich in den vergangenen zwei Jahren so oft getröstet hatte?
Und jetzt wollte sie mir auf einmal weismachen, ich müsste
verzeihen? Es erschien mir so völlig unmöglich. Wie kann man eine Tat verzeihen, die einen so lange in einem Leben gefangen hielt, für das man sich gar nicht selbst entschieden hat?
Man kann doch nicht einfach einen Schalter umlegen und den Schuldigen von seinen Sünden lossprechen.
Oder doch?
»Ich kann nicht«, wisperte ich. »Ich kann es nicht hinter mir lassen. Ich kann einfach nicht vergessen, was passiert ist, und welche Folgen es hatte.«
»Natürlich kannst du das«, widersprach sie beschwichtigend. »Wenn ich es konnte, kannst du es auch.«
Ich schüttelte den Kopf, spürte meine Unfähigkeit, ihm zu vergeben wie eine Mauer, die mich umgab, eine Mauer, die ich nicht die Kraft hatte, zu überwinden. »Ich kann ein Übel, für das ich mein Leben lang versucht habe, Wiedergutmachung zu leisten, nicht verzeihen«, murmelte ich halblaut. Es war nicht für ihre Ohren bestimmt, aber sie hörte es trotzdem. Irgendwie wollte ich sogar, dass sie es hörte und mir sagte, was ich tun sollte.
Und genau das tat sie auch.
»Du musst, wenn du glücklich werden willst«, sagte sie schlicht. Als wäre das die einzig wichtige Wahrheit im Leben, als diente alles andere nur dazu, uns die Sicht zu verstellen, uns in die Irre zu führen, unsere Aufmerksamkeit auf destruktivere Gedanken zu lenken. »Du musst lernen, loszulassen, dich von Wut und Groll zu befreien. Wenn du dich weiter daran klammerst, werden sie dich nämlich auffressen, bis nichts mehr von dir übrig ist.«
Sie sprach zwar nach wie vor über meinen Vater, aber ich wusste, es gab noch jemand anderes, dessen Vergebung ich seit Jahren zu erlangen versuchte. Und dieses Unterfangen gestaltete sich ungleich schwieriger.
Die Türklingel ließ mich zusammenfahren und holte mich abrupt in die Realität zurück. Halloween. Süßes oder Saures. Verkleidete Kinder. Ich schniefte, wischte mir mit dem Handrücken die Nase ab und schnaubte leicht belustigt angesichts meines aufgelösten Zustandes.
Mom legte mir die Hand auf den Arm. »Ich gehe schon«, sagte sie und griff zu den Süßigkeiten.
»Nein, nein«, wehrte ich ab und nahm ihr die Schale aus der Hand. »Lass mich.«
Ich brachte Kleider und Frisur in Ordnung, während ich die zehn Schritte zur Tür ging. Die Tür, die einst mein täglicher Fluchtweg aus einem Gefängnis gewesen war, von dem ich angenommen hatte, ich könnte ihm nie ganz entkommen.
Es würde rein gar nichts nützen, meine Mutter in meine unzähligen Geheimnisse einzuweihen. Es würde bloß weitere Seelenqualen hervorrufen. Ich konnte das alles nur hinter mir lassen, indem ich meinem Vater verzieh, dass er den Grundstein für all diese Heimlichkeiten gelegt hatte.
Wahre Freiheit erlangen, würde ich allerdings erst, wenn ich noch viel, viel tiefer schürfte. Wenn ich einem Menschen verzieh, der mir ungleich näher stand: mir selbst. Und das war eine viel größere Herausforderung.
Mit der Schale voller verlockender Süßigkeiten unter dem Arm und einem breiten Lächeln im Gesicht öffnete ich die Tür und sah mich drei sieben- oder achtjährigen Mädchen gegenüber.
»Süßes oder Saures!«, trompeteten sie im Chor.
»Ihr habt euch aber herausgeputzt!«, lobte ich sie, während ich diverse Köstlichkeiten in ihre Beutel fallen ließ.
»Mit wem habe ich denn die Ehre?«
»Ich bin She-Ra, Prinzessin der Macht«, verkündete die Kleine in der Mitte und lüftete stolz ihren Umhang. Darunter
trug sie ein enges Kleid in Weiß und Gold, und auf dem Kopf einen geflügelten goldenen Helm. Dann deutete sie auf die etwas weniger mutige Freundin zu ihrer Linken, die ein goldenes Stirnband und einen rot-blauen Gymnastikanzug anhatte. »Das ist Wonder Woman. Wir werden oft verwechselt, aber wir sind total verschieden.«
»Ich weiß«, entgegnete ich ernst.
»Wonder Woman kann fliegen, und She-Ra hat übermenschliche Kräfte«, erklärte sie naseweis.
»Tatsächlich? Das ist mir allerdings neu. Und wer bist du?«, fragte ich die dritte Besucherin, die ebenfalls allerliebst anzusehen war in ihrem roten Top, der roten Hose und dem roten Tuch auf dem Kopf.
Sie lächelte schüchtern und wippte vor und zurück. »Ich bin Electra.«
»Cool«, staunte ich und
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