Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
völlig überfordert.
Dad drehte sich zur Seite und sah mir in die Augen. »Vor allem, wenn man diesen Menschen liebt«, fügte er mahnend hinzu.
Rasch wandte ich mich ab. Was hätte ich dafür gegeben, seine Gedanken lesen zu können, seine Erinnerungen durchblättern zu können wie eine Schachtel Karteikarten. Aber dafür blieb mir keine Zeit. Schon sah ich meine Mutter aus
dem Terminal kommen und zum Wagen eilen. Ich befreite mich ohne ein weiteres Wort vom Sicherheitsgurt und kletterte auf den Rücksitz.
Mein Dad sah geradeaus, als wäre nichts geschehen. Als hätten wir uns lediglich über die gestrige Folge von Doogie Howser, M.D. unterhalten und das Gespräch soeben beendet.
Beendet war es allerdings noch lange nicht, denn im Geiste ging ich es wieder und wieder durch, suchte nach Hinweisen, Schlüsselwörtern, ungewöhnlichen Details. Nichts. Zurück blieb das vage Gefühl, dass die Worte meines Vaters wohl nichts weiter gewesen waren als ein wahllos erteilter väterlicher Ratschlag – zu einem denkbar unpassenden Zeitpunkt.
Schon ging die hintere Tür auf, und das runde, fröhliche Gesicht meiner Mutter erschien, um mich auf die Wange zu küssen. Dann öffnete sie die Beifahrertür, setzte sich, griff nach hinten und legte mir zärtlich die Hand aufs Knie.
»Na, wie war’s? Alles okay?«, erkundigte sie sich gut gelaunt. Glücklich. Unschuldig. Ihre Ahnungslosigkeit schmerzte mir in der Brust wie ein Messerstich.
Ich lächelte sie an. »Ja, alles bestens.«
Und im selben Augenblick löste sich meine Verwirrung in Luft auf. Plötzlich ergab alles, was mein Vater gesagt hatte, einen Sinn. Warum sollte ich absichtlich jemandem wehtun, den ich liebte? Oder, was noch wichtiger war: jemandem, der mich liebte – bedingungslos?
Die Antwort lautete: Ich würde es nicht tun.
In diesem Moment fasste ich einen Entschluss: Ich würde nie ein Wort darüber verlieren. Weder meiner Mom noch meinem Dad noch Julia gegenüber. Noch nicht einmal Sophie, die doch meine beste Freundin war, würde ich einweihen. Und je länger ich Stillschweigen bewahrte, desto einfacher würde es werden, mir einzureden, dass es gar nicht
geschehen war. Und je mehr ich mir das einredete, desto einfacher würde es werden, mich nicht damit auseinanderzusetzen. Es nicht zu analysieren. Es mir nicht doch noch einmal anders zu überlegen, obwohl mich mein Verstand dazu drängte. Auf diese Weise würde mein Leben einfach weitergehen. Unterhaltungen mit Sophie über Jungs, Klagen über das fehlende eigene Telefon, der köstliche Reiz des Verbotenen, wenn ich gegen den Willen meiner Mutter Lippenstift und Lidschatten trug.
Dabei war mir eines nicht bewusst, als ich die naive Entscheidung traf, das Geheimnis in einen Tresor zu sperren, für dessen Schloss es keine Kombination gab: dass mein Leben gar nicht »einfach weitergehen« konnte .
Dass ich zwar weiter über Jungs und Make-up und mein eigenes Telefon reden konnte, aber nichts mehr dabei empfinden würde. Nie wieder würde ich die Unschuld eines Kindes an der Schwelle zum Teenager verspüren. Mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn würde ich mit Jungs ausgehen, sie küssen, sogar meinen Körper mit ihnen teilen, aber ich würde sie nicht lieben. Ich würde keinen von ihnen an mich heranlassen. Jedenfalls nicht so, wie ich es gern getan hätte. Nicht so wie Sophie es tat.
Mein Leben als Attrappe hatte begonnen.
Als Mom von ihrem Besuch bei ihren Eltern in Chicago zurückkam, diente sie mir als Schutzschild. Solange sie da war, musste ich nicht mit meinem Dad allein sein. Ich musste nicht schweigend neben ihm sitzen und der Versuchung widerstehen, ihm die Fragen zu stellen, die mir ständig auf der Zunge brannten: Warum?
Warum küsst du eine andere Frau, wenn du Mom hast? Warum hast du nur darauf gewartet, bis sie weg war, um es zu tun? Warum liebst du sie nicht so, wie es sich gehört?
All diese Fragen liefen im Endeffekt auf das grundlegende,
unlösbare Rätsel hinaus: Warum betrügt man einen Menschen, den man liebt?
Die Scheidung kam, als ich fünfundzwanzig war, nachdem Mom herausgefunden hatte, dass Dad sie seit mehreren Monaten mit einer seiner Bürokolleginnen betrog.
Wie sie dahinterkam, weiß ich nicht, ich habe nie danach gefragt, weil ich nicht sicher war, ob ich mit diesem Detail würde umgehen können. Seltsam, wenn man bedenkt, was für eine Last ich all die Jahre getragen hatte. Man möchte meinen, da dürfte eine klitzekleine Zusatzinformation keinen großen
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