Tribunal
zusammen. Tatsächlich war er vor vielen Jahren als Karikatur in einem lokalen Anwaltsblatt abgebildet worden, nachdem er noch als Amtsrichter in Dortmund einen Angeklagten wegen eines einfachen und erstmaligen Diebstahls zu einer unverhältnismäßig hohen Strafe verurteilt hatte. In der Karikatur war Frodeleit als Scharfrichter abgebildet, der im Begriff war, den Verurteilten zu köpfen. ›Kein Mitleid, Richter Frodeleit‹ war die Karikatur untertitelt, und Frodeleit hatte seinerzeit in der Folgeausgabe eine Entschuldigung erwirkt. ›Das tut uns leid, Richter Frodeleit!‹ stand am Ende des Widerrufs, den Frodeleit als zu wenig demütig empfand. Kannte Bromscheidt etwa die Karikatur mit dem Begleitartikel, in dem er als Richter Gnadenlos bezeichnet wurde?
Frodeleit ahnte unvermittelt, dass er nicht zufällig in Bromscheidts Hände geraten war. Hatte Bromscheidt womöglich mit dem damaligen Angeklagten zu tun? Das schien unwahrscheinlich. Die Verurteilung lag rund zehn Jahre zurück und überdies hatte die nächste Instanz die Strafe auf die folgende Berufung des Angeklagten deutlich abgemildert. Frodeleit schöpfte in seiner Zeit als Amtsrichter den Strafrahmen häufig aus. Seine Urteile schreckten ab, selbst dann, wenn sie die nächste Instanz korrigierte. Die Angeklagten konnten sich ihm nicht entziehen. Er war der gesetzliche Richter, nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständig für die Angeklagten, deren Nachnamen mit den Buchstaben A bis C anfingen. Nur wenige Kollegen kritisierten ihn wegen seiner Spruchpraxis. Einige fanden ihn mutig. Frodeleit verstand sich durchaus als reinigende Kraft in einer Gesellschaft, die aus den Fugen zu geraten schien. So missbilligte er eindeutig die zahllosen Graffitis in seiner Stadt sowie die mutwillig zerkratzten Scheiben in den U-Bahnen und die morgens zur Schulzeit durch die Musikabteilungen der Kaufhäuser streunenden Jugendlichen. Frodeleit urteilte, wie viele Bürger urteilen würden, wenn sie richten dürften. Wenn er die Presse einlud, seinen Verhandlungen beizuwohnen, zelebrierte er seine Verfahren und wusste auf den fragenden Blick des Angeklagten in den Zuschauerraum mit sachlichen Worten einzuflechten, dass die Öffentlichkeit in Form der Presse anwesend sei, um unausgesprochen in den Raum zu stellen, dass sich der Angeklagte vor der Öffentlichkeit schämen solle. Selbstverständlich hielt Frodeleit alle prozessualen Regeln akribisch ein. Zuweilen gab es Befangenheitsanträge gegen ihn, die jedoch in der Sache erfolglos blieben, davon abgesehen, dass der den Befangenheitsantrag stellende Anwalt riskierte, bei nächster Gelegenheit in einem anderen Prozess für seinen Mandanten eine noch höhere Strafe zu kassieren. Seither nahmen viele Anwälte die Art und Weise seiner Prozessführung hin und Frodeleit honorierte deren zugleich von ihm verachtete devote Haltung gelegentlich mit unerwartet milden Urteilen.
»Die Gnade ist nicht Bestandteil des Strafgesetzbuchs«, erklärte Frodeleit. »Gnade ist nicht Rechtsanwendung, sondern ein Akt des Wohlwollens.«
»Sie sind durch und durch Jurist«, kam es anerkennend durch den Lautsprecher zurück. »Sie sind also bereit?«
Frodeleit schwieg.
»Ich will ein faires Verfahren gegen Löffke«, forderte Bromscheidt. »Es passiert Ihnen nichts, wenn Sie sich einfach an die Verfahrensgrundsätze halten, die Sie auch im wirklichen Leben beherzigen. – Also: Können Sie sich vorstellen, dass der Frühstückstisch das Richterpult bildet? Ist er groß und hoch genug?«
»Ja, aber ich habe trotzdem Bedenken.«
»Welche, Herr Frodeleit? Sie wissen, was ich will. Und Sie wissen, dass Ihnen selbst Unheil droht, wenn Sie es nicht tun. Sie können nichts dafür, Herr Frodeleit. Das müssen Sie sich immer klarmachen. Ich habe mit Herrn Löffke eine Rechnung offen, und die wird hier unten beglichen. Seien Sie einfach so, wie Sie immer sind, Herr Frodeleit. Sie tragen keine Verantwortung, aber ich will, dass Sie urteilen, als säßen Sie im Gerichtssaal.«
»Aber ich kann doch gar keine Sanktionen verhängen«, wehrte Frodeleit ab, als sei Bromscheidts Idee nur ein unrealistisches Spiel.
»Es wird wie im amerikanischen Justizsystem sein, nur quasi umgekehrt«, bemerkte Bromscheidt. »Dort befinden die Geschworenen über Schuld oder Unschuld und der Richter über das Strafmaß. Hier befinden Sie über Schuld oder Unschuld, und ich denke mir aus, was ich mit Herrn Löffke mache. Ich denke, das ist fair. Wir brauchen hier keine
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