Tribunal
erinnerte sich, dass sie vor etwa einem Jahr in ihrer Wohnung einen Abend darüber diskutiert hatten, ob und wie sie unter anderen politischen Umständen gegen eine Diktatur aufbegehren würden. Marie schloss nicht aus, im Untergrund kämpfen zu wollen, und Stephan relativierte, dass es ganz darauf ankomme. ›Worauf solle es ankommen?‹, hatte sie gefragt und Stephan hatte nur bitter gelächelt. Und ausgerechnet hier, in diesem von einer verbrecherischen Diktatur errichteten labyrinthischen Stollensystem, hier, an diesem Mahnmal einer abgrundtiefen Vergangenheit, stellte sich die Frage, die er damals mit Marie debattiert hatte und ihm trotz aller Ernsthaftigkeit so theoretisch erschienen war. Zu Löffkes zu gehen, hieß wahrscheinlich hungern und dursten zu müssen. Marie musste doch wissen, dass allenfalls aus der Halle heraus eine Chance bestand, Bromscheidt zu überwinden, und auch nur dann, wenn sie beieinander blieben und körperlich bei Kräften waren.
Marie erhob sich.
Frodeleit griff hastig in den Korb und streckte ihr ein Brötchen entgegen.
»Nehmen Sie es!«, zischte er.
»Nehmen Sie doch den ganzen Korb mit, bitte!«, setzte Verena nach.
Stephan spürte, dass Marie zitterte. Er wagte nicht, sie jetzt zu streicheln. Sie entschied sich gegen die Vernunft. Marie nahm den Korb, trat an die verschlossene Stahltür und rüttelte daran.
Bromscheidt reagierte sofort.
»Was machen Sie da, Frau Schwarz?«, dröhnte es aus der anderen Ecke. »Was haben Sie an dem Tisch beredet?«
»Frau Schwarz möchte zu den Löffkes«, antwortete Frodeleit laut.
»Es gibt kein Essen für die Löffkes«, kam es geballt aus den Lautsprechern.
Er hatte alle elektronischen Effekte zugeschaltet.
»Ich werde bei den Löffkes bleiben«, schrie Marie zurück.
Es blieb einen Moment still. Die Mikrofone lauerten in den Ecken.
»Sie wissen, was das heißt?«, fragte Bromscheidt schließlich, als müsse er sich vergewissern, ob der Kandidat die Konsequenzen seines Tuns wirklich bedacht hatte.
»Sie werden es mir sagen«, antwortete Marie laut.
Bromscheidt erwiderte nichts. Sie hörte ein Knistern und Knacken in den Lautsprechern, dann, Sekunden später, begann wieder das unerträgliche Pfeifen. Marie ließ den Korb fallen, hockte sich hin und verschränkte mit an die Ohren gepressten Armen die Hände hinter dem Kopf. Der Terror dauerte vielleicht eine halbe Minute, doch es kam ihnen viel länger vor. Als das Pfeifen versiegte, blieb es wieder für quälend lange Minuten in den taub gewordenen Ohren zurück.
»Wir streichen Ihren Wunsch aus dem Protokoll, Frau Schwarz«, beschied Bromscheidt knapp. »Herr Frodeleit?«
»Ja?«
»Sind Sie bereit für den Prozess gegen Löffke?« Er schickte einen kurzen drohenden Pfeifton hinterher.
»Räumen Sie den Tisch ab und stellen Sie die Nahrungsmittel in die Ecke! – Was denken Sie: Ist der Tisch ein geeignetes Richterpult?«
Frodeleit blickte unsicher in die Kamera.
»Wie meinen Sie das?«
»Schätzen Sie diese Frage, wenn sie von Examenskandidaten gestellt wird, die den Prüfungsstoff nicht beherrschen?«, fragte Bromscheidt zurück.
Frodeleit schüttelte den Kopf.
»Man hört überall, dass Sie geradlinig und streng sind. Manche nennen Sie auch unbarmherzig. Stimmt das?«
Frodeleit warf einen irritierten Blick auf Verena. Sie hatten geglaubt, dass Bromscheidt nur wenige Informationen über sie hatte. Woher wusste Bromscheidt, welchen Ruf Frodeleit als Richter und als Prüfer in den juristischen Examina hatte? Er galt als streng, ohne Zweifel, aber er tat nichts Unrechtmäßiges. Ein Prüfling hatte ihm vor Jahren die Stirn geboten und nach dem nicht bestandenen Examen vorgehalten, dass er darauf aus gewesen sei, seine Prüfungsfragen so auszuwählen, dass der Kandidat scheitern müsse. Frodeleit hatte wahrheitsgemäß geantwortet, dass dies nicht stimmen könne, weil es Kandidaten gebe, die seine Fragen zu beantworten wüssten. »Du trennst die Spreu vom Weizen«, attestierte Verena immer, wenn er zu Hause von den von ihm abgehaltenen Prüfungen berichtete.
»Ich bin nicht unbarmherzig«, antwortete Frodeleit bestimmt. »Ich bemühe mich darum, gerecht zu sein. Das ist mein Ruf! Fragen Sie Kollegen aus der Richterschaft!«
Bromscheidt lachte heiser.
»Sie werden schon nicht umsonst den Vorsitz bekommen, Herr Frodeleit. Und ich freue mich ja, dass Sie da sind. Aber wissen Sie auch, dass Sie in Anwaltskreisen als Richter Gnadenlos verschrien sind?«
Frodeleit zuckte
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