Tribunal
Marie und lächelte ihn an.
Er witterte, dass der Konflikt mit Marie offen ausbrechen würde. Die Folgen wären unabsehbar.
Frodeleit trat die Flucht nach vorn an.
»Wenn Sie zu den Löffkes wechseln möchten, dann sollten Sie so fair sein, dies zu sagen und entsprechend zu handeln«, sagte er weich.
Jetzt schaffte er es, Marie gerade ins Gesicht zu sehen. Es war der Blick, mit dem er ruhig auf den Angeklagten sah, um ihn zum Geständnis zu bewegen. Frodeleit suchte die Klärung, die Heilung und Befriedigung versprach. Er entließ die Angeklagten aus ihrer Konfrontation mit dem Rechtsstaat. Sie würden sich nicht mehr an ihm, dem Richter, reiben müssen. Sie durften wieder sein, wer sie eigentlich sind. Frodeleits Worte waren milde und schienen von Fairness getragen. Der Angeklagte musste einsehen, dass er seine Grenze erreicht hatte. Jetzt endlich sollte er zu seiner Verantwortung stehen.
»Ich gehe zu den Löffkes«, antwortete Marie entschieden.
Frodeleit schnaufte. Er hatte mit dieser Antwort gerechnet, aber irgendwie gehofft, Marie würde sich noch anders entscheiden. Wie konnte ein Mensch, der zwischen der schlechten und der noch schlechteren Alternative wählen musste, der unvernünftigeren den Vorzug geben? So vorteilhaft es schien, die aufmüpfige Marie entfernt zu wissen, so unkalkulierbar waren auch die Folgen dieses Wechsels. Die Stärkung der Löffke-Fraktion konnte die eigene schwächen. Marie störten die von Bromscheidt vorgegebenen Strukturen, in denen die Gruppierung um Frodeleit die besseren Konditionen hatte. Plötzlich fürchtete Frodeleit, dass er mit seiner bohrenden Frage etwas in Gang gebracht hatte, was ihm selbst schaden könnte.
»Überlegen Sie noch mal, Frau Schwarz!«, gab er zu bedenken. »Es bringt Ihnen doch nichts. Sie helfen weder sich noch uns, noch den Löffkes.«
»Ihre Reihenfolge ist bezeichnend«, antwortete sie schneidend.
»Es kann Folgen für uns alle haben«, mahnte er leise und sah zu Stephan, der sichtbar mit Maries Entscheidung kämpfte. Ihr Entschluss, zu den Löffkes wechseln zu wollen, nahm ihn in die Pflicht. Von sich aus würde er nicht gehen wollen. Doch Marie würde gerade von ihm diese Solidarität erwarten, zumal seine Entscheidung auch eine Entscheidung für oder gegen sie war.
»Sie wissen nicht, wie Bromscheidt reagiert«, sagte Frodeleit so leise, dass die Mikrofone an der Wand diese Worte nicht einfangen konnten. »Was bringt es uns, zu den Gefangenen zu halten?«, fragte er weiter und wunderte sich selbst darüber, wie eigenartig es war, in Bezug auf die Löffkes von den Gefangenen zu sprechen, wo sie selbst sich doch in genau derselben Situation befanden. Verschafften das üppige Frühstück, die Wolldecken und die Heizlüfter Freiheit?
Marie mochte Stephan nicht in die Augen blicken. Er sollte für sich entscheiden. Ihm war klar, dass Marie keine menschliche Nähe zu Löffke entwickelt hatte. Sie kannte Löffkes üble Agitationen gegen sie, seit sie mit Stephan zusammen war. Damals lebte er noch in Scheidung. Marie, seinerzeit noch Studentin, war in Löffkes Augen stets Stephans Verhältnis, ein ihm und den anderen Anwälten der Kanzlei unkonventioneller und deshalb verdächtiger Eindringling, der die festen Strukturen des biederen Anwaltsbüros empfindlich zu stören drohte. Sie hatte bei ihren Besuchen in der Kanzlei stets vermieden, auf Hubert Löffke zu treffen, doch Löffke hatte immer wieder, wenn er sie im Hause wusste, die Konfrontation gesucht und ihr aufgelauert, wenn sie durch den marmornen Flur im Erdgeschoss dem Ausgang entgegenstrebte. Dann trat er wie zufällig aus seinem Büro, um sich in mächtiger Pose vor ihr aufzubauen und sie misstrauisch zu fragen: ›Haben Sie heute keine Vorlesung?‹ Oder: ›Hat Herr Kollege Knobel nichts zu tun?‹ Dabei verschränkte er die Arme vor der Brust und faltete seine Hände auf seiner sich über seinen dicken Bauch spannenden schwarzen Weste. Sie hatte sich auf diese Provokationen nie eingelassen und war nach einer freundlichen, aber unverbindlichen Antwort an ihm vorbei ihres Weges gegangen.
Stephan spürte, dass Marie ihrem Gerechtigkeitsgefühl folgte, das sie für diejenigen Partei ergreifen ließ, denen Unrecht widerfuhr. Maries Mitgliedschaft in diversen Organisationen unterstrich dies, aber Stephan wusste, dass sie darüber hinaus auch aktiv eingreifen würde, wenn sie mit Situationen konfrontiert war, in denen sie um der Gerechtigkeit willen Position beziehen musste. Er
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