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Tribunal

Tribunal

Titel: Tribunal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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folgerte Stephan. »Aber die passt nicht in die zweite Geschichte. Frodeleit musste auch deine Wohnung beobachten, um zu wissen, wann du sie verlässt, um dann hier einzudringen. Aber woher hatte er den Schlüssel? Von Verena? Wie soll das gehen? Von Löffke? Er hat keinen. Und bei allen Varianten bleibt die Frage: Was hat Frodeleit davon?«
    »Ich weiß es nicht«, bekräftigte Marie leise. Sie stand auf und öffnete umständlich eine Flasche Wein. »Es ist mir auch egal. Glaub denen oder mir. Ich kann es nicht ändern.«
    »Aber ich glaube dir doch.«
    »Nein! Du versuchst, dich der Sache mit Logik zu nähern. Aber es geht hier nicht um Logik. Es geht um einen absolut wahnhaften Menschen. Das ist Frodeleit. Schneidend gefährlich und facettenreich. Hochintelligent und stets berechnend.«
    »Aber, Schatz!« Stephan verstummte. ›Aber, Schatz!‹ klang in diesem Zusammenhang so vernichtend. Er warb um Verständnis und näherte sich über die verniedlichende Koseform. Wenn er ihr nicht glaubte, würde er ihr mit dieser besänftigenden Anrede nicht näher kommen.
    »Hau ab!« Sie warf den Kopf nach hinten und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Ihre langen schwarzen Haare fielen zurück.
    Stephan schluckte. »Es tut mir leid!«, sagte er leise.
    »Geh! Ich werde allein damit fertig, bis alles vorbei ist.«
    Stephan stand auf. So hatten sie sich noch nie getrennt. Marie lief verstört zur Musikanlage, schmiss fahrig einzelne CDs aus dem Ständer, griff endlich eine heraus und drückte sie hart in das Gerät. Marius Müller-Westernhagen. Sie drehte die Lautstärke auf. Johnny Walker‹ dröhnte in den Raum.
    »Ich kann dich doch nicht allein lassen«, schrie er.
    »Doch!« Sie trank weiter. »Ich bin schon allein. – Geh, geh jetzt!«
    Er ging. Als er die Tür geöffnet hatte, drehte er sich zu ihr um. Die Musik hämmerte in der Wohnung. Wenn er ihr sagen würde, dass er ihr glaubte, würde sie es nicht annehmen. Der dunkle Mann in der U-Bahn und der vermeintliche Brief der Bezirksregierung hatten grausame Früchte getragen.
    »Siehst du, auch darin kann ein Sinn liegen«, schrie sie gegen die Musik an. »Zerstörung kann auch Selbstzweck sein. Vielleicht will er uns nur zerbrechen. Vielleicht auch nur mich.«
    Sie hatte glänzende Augen. Waren es Tränen oder der Alkohol? Sie wandte sich ab, verschwand ins Wohnzimmer und drehte die Musik noch lauter.
    Stephan zog die Tür hinter sich zu und ging. Er war noch nicht weit gegangen, als sie ihn auf dem Handy anrief. Die Musik war verstummt.
    »Das Fenster ist auf. Es weht ein kalter Wind rein. Aber ich habe das Fenster nicht geöffnet, Stephan. Er war da.« Ihre Stimme bebte.
    »Nein«, beruhigte er sie. »Ich habe es vorhin geöffnet. Er war es nicht.«
    Sie legte ohne ein weiteres Wort auf.
    Wie beendet man einen Streit, dessen Anlass man nicht lösen kann?
    Stephan fuhr in seine Wohnung im Dortmunder Nordwesten zurück. Er legte sein Handy neben das Festnetztelefon und setzte sich vor die Geräte. Er lauerte auf ihren Anruf. Doch es blieb still, während er gedankenverloren in den Fernseher schaute und wahllos von einem Sender zum anderen wechselte. Draußen war es längst dunkel und still geworden. Er hatte eine Weinflasche geöffnet und trank sie ohne jeden Genuss aus. Sie waren beide stur, jeder auf seine Weise. Aber es ging hier nicht um Kompromisse. Die Glaubensfrage war eine existenzielle Angelegenheit. Wie lange glaubt man dem Menschen, den man liebt, wenn die tatsächlichen Umstände so fragwürdig erscheinen? Und wann verflüchtigt sich die Liebe, wenn der Glaube verloren ist?
    Er wartete bis kurz nach Mitternacht. Dann überwand er sich und wählte ihre Nummer. Marie meldete sich nicht. Stephan versuchte es ein zweites und ein drittes Mal. Vergeblich. Er geriet in Panik, rief eilig ein Taxi herbei und ließ sich in die Brunnenstraße fahren.
    Als er Maries Wohnung betrat, war alles dunkel. Er machte das Licht an und ging ins Wohnzimmer. Sie war nicht da. Vor dem Fenster schaukelten ihre Blumenampeln.
    Ein Flügel stand offen. Die Blumentöpfe, die sich auf der Fensterbank befunden hatten, standen nun auf dem Schreibtisch. Der kalte Wind wehte scharf hinein und raschelte in den Unterlagen, die im Regal lagen. Zwei Blätter waren heruntergefallen.
    »Marie?« Er ging ins Schlafzimmer. Das Bett war leer. »Marie!« Er rief ihren Namen und rannte in die Küche. Dort saß sie an ihrem kleinen Küchentisch, den Oberkörper darüber gebeugt, der Kopf ruhte auf

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