Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Anna wechselte einen verständnislosen Blick mit ihrem Mann. »Wie meinen Sie das?«
Veckenstedt hob abwehrend die Hände. »Wir wollen natürlich nicht vom Schlimmsten ausgehen.Und neunundneunzig Prozent aller Vermisstenfälle stellen sich sowieso als …«
»Das wissen wir bereits! Worauf wollen Sie hinaus?«
Der Polizist sog geräuschvoll die Luft in die Lungen und schien zu überlegen, wie er seine Gedanken formulieren sollte. Dann sagte er: »Wir überprüfen zurzeit die einschlägig vorbestraften Triebtäter, die im Prenzlauer Berg gemeldet sind.«
»Triebtäter?«, fragte Alan.
»Triebtäter?«, stieß Anna zur gleichen Zeit hervor, während sich ihr Magen umdrehte.
Aber warum bist du so entsetzt?
Im Grunde wusste sie bereits seit dem Morgen, dass etwas passiert sein musste, aber dabei hatte sie immer an einen Unfall gedacht, im Autoverkehr, wegen des Glatteises, irgendetwas in dieser Richtung. Aber ein Triebtäter? Nein, das wollte sie sich nicht ausmalen.
Auf keinen Fall! Niemals!
Als es an der Tür klingelte, stürzte sie in die Diele.
Das ist er!
Aber noch während sie durch den Flur stürmte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie sich nur etwas vormachte.
Manuel wird nicht plötzlich vor der Tür stehen.
Immerhin war die Störung eine willkommene Gelegenheit, um vor Veckenstedt und dem, was er zu sagen hatte, zu fliehen.
Im Hausflur katzbuckelte Frau Krause vor ihr. »Ich habe gehört, was geschehen ist. Das tut mir ja so leid.«
Der mitleidige Ton der alten Nachbarin aus dem zweiten Stock brachte Anna zum Schaudern.
»Manuel war so ein lieber Junge.«
»War?«
, schrie Anna jetzt außer Rand und Band. »Wieso
war
er ein lieber Junge?«
Frau Krause schrumpfte in sich zusammen. »Aber ich …«
»Manuel ist nicht tot.«
»Anna!« Alan eilte durch den Flur auf seine Frau zu, umarmte sie und geleitete sie zurück auf die Couch. Dann ging er noch einmal zur Tür und wechselte einige Worte mit Frau Krause.
Deren durchdringende Stimme hallte durch die Diele bis ins Wohnzimmer. »Ich wollte doch nichts Böses. Nur helfen. Ich mochte Manuel …«
»Er ist nicht tot!«, brüllte Anna vom Sofa aus.
»… doch genauso. Anna soll nur sagen, wenn sie etwas braucht. Ich bin sofort zur Stelle. Auch am Abend. Sogar in der Nacht. Überhaupt kein Problem. Ach, Manuel war, äh … ich meine, er ist so ein lieber Junge.«
Als Alan ins Wohnzimmer zurückkehrte, sagte er erklärend zu Veckenstedt: »Die Nachricht vom Verschwinden Manuels hat sich anscheinend im Haus herumgesprochen.«
»Das ist gut«, befand der Polizist. »Sorgen Sie dafür, dass auch die Straßenanwohner davon erfahren. Je mehr Leute von Ihrer Suche nach Manuel mitbekommen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand meldet, der etwas gesehen hat.«
Was sollen die Leute denn gesehen haben?
Annas Hände verkrampften sich.
Einen Triebtäter?
Bei dem Gedanken wurde ihr kotzübel. Sie griff nach den Gauloises. Nur mit Mühe gelang es ihren zitternden Fingern, eine Zigarette zu entzünden. Doch die Kippe entglitt ihr beinah wieder, als Veckenstedt fragte: »Haben Sie Feinde, die Ihnen schaden wollen? Geschäftspartner zum Beispiel? Oder Kunden der Agentur? Gibt es Anlass zur Vermutung, dass jemand sich an Ihnen rächen will?«
Etwas Böses? Rächen?
Wie das klang.
Fast noch absurder als der Triebtäter.
Aber wäre es dir lieber
,
wenn ein Triebtäter Manuel in der Hand hat?
»Wie ich hörte, mussten Sie Mitarbeiter entlassen?«
»Das stimmt. Aber es hat keine böse Stimmung gegeben.«
»Was ist mit Geld? Wie stehen Sie finanziell da?«
»Finanziell?«
»Ist denkbar, dass jemand Sie erpressen will?«
Anna stierte auf die glühende Spitze der Gauloise. Sie hatte noch keinen einzigen Zug genommen. »Wie Sie gerade eben schon gesagt haben: Ich musste Mitarbeiter entlassen. Jetzt stehe ich kurz davor, meinen wichtigsten Kunden zu verlieren. Mit anderen Worten: Ich bin so gut wie pleite. Nur mit Mühe kann ich mich und Manuel über Wasser halten. Was meinen Sie, warum es meinem Sohn so schlecht ging?« Sie hob die Zigarette, hielt inne und fügte dann hinzu: »Und warum er abgehauen ist?«
Noch während ihr die letzte Frage über die Lippen kam, schalt sie sich schon eine Närrin.
Rede keinen Unsinn!
Manuel konnte nach der Schule durch die Stadt gestromert sein. Ja, das war denkbar.
Aber er war nicht von zu Hause ausgerissen.
Du kennst die Wahrheit!
Angewidert drückte Anna die Zigarette auf einer Untertasse
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