Trieb
Ende«, zeigte sich Jessy schockiert. »Wenn ich mir vorstelle, dass so etwas meinem Kind passieren würde, da wird mir ganz schlecht!«
Kalkbrenner horchte interessiert auf. War das etwa der wahre Grund, weshalb sie umziehen wollte? Hatte sie ihn deshalb heute treffen wollen? »Seid ihr … äh, ich meine, bist du schwanger?«
Sie lachte. »Aber bitte, Paps!«
»Das klang aber so.«
Nichts deutete darauf hin, dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Sollte er darüber erleichtert sein? Vor wenigen Minuten noch war er sich inmitten seiner Wohnsituation wie ein Teenager vorgekommen. Was wäre gewesen, wenn Jessy ihn mit einem Geständnis zum Großvater in spe gemacht hätte?
»Ich habe das nur so gesagt«, versicherte sie. »Nur wegen der Vorstellung, dass das irgendwann mal meinem Kind passieren könnte.«
»Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering.«
»Aber wenn man die Nachrichten mitverfolgt, dann …«
»Genau die sind doch das Problem! Die Medien bauschen jedes Verschwinden eines Kindes zu einer Katastrophe auf, die immer noch entsetzlicher sein muss als die letzte. Natürlich ist jeder einzelne Fall eine Tragödie, aber diese zunehmende Hemmungslosigkeit bei der Berichterstattung schürt eine Emotionalität, die dazu führt, dass die Bevölkerung glaubt, überall würden einem Kindermörder auflauern.« Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Endlich bewegte er sich wieder auf dem vertrauten Terrain seiner Arbeit. »Dabei ist die Zahl der Fälle in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich angestiegen. Im Gegenteil: Die Tötungsdelikte an unter Vierzehnjährigen werden seit vielen Jahren kontinuierlich weniger.«
»Tatsächlich?«
»Die meisten Kinder, die verschwinden, tauchen unbeschadet wieder auf. Sie haben sich verlaufen oder sind einfach von zu Hause ausgerissen.«
Jessy dachte über seine Worte nach, während der Radiosender David Bowie spielte:
Take my hand as we go down and down. Leave it all behind nothing will be found.
»Wie können sie denn …? Hilfe, was ist denn das?«
Ein Wummern erschütterte die gesamte Wohnung. Wände wackelten, Fensterscheiben klirrten. Die Weingläser auf dem Tisch machten einen Satz, der Inhalt schwappte über den Rand und bildete sofort zwei rote Lachen. Auf dem Schrank kippte einer der Bilderrahmen um. Bernie kläffte erschrocken.
Kalkbrenner richtete den Blick fragend zur Decke, von wo das Dröhnen kam. »Ich weiß nicht.«
»Das klingt nach Schritten. Weißt du, wer da oben wohnt?«
»Niemand.«
»Aber da läuft doch jemand herum!«
»Die Maklerin hat gesagt, dass sich nur der Dachboden über mir befindet.«
»Dann ist da jemand oben.«
Schon wieder rumste es, und die Wohnung bebte. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen. Und noch eines.
»Da schiebt doch jemand Möbel herum«, meinte Jessy.
Kalkbrenner schüttelte den Kopf, doch er musste zugeben, dass sich die Geräusche ganz eindeutig nach Möbelrücken anhörten. Er riss das Fenster auf und beugte sich zum Dachfirst vor.
Jessy trat an seine Seite. »Kannst du was erkennen?«
»Nein.«
»Doch, da … warte!« Sie lehnte sich übers Fensterbrett hinaus.
»Jessy, pass doch auf!«
Sie zog ihren Oberkörper zurück. »Da oben brennt Licht.«
Dann klingelte der Lieferservice und brachte ihr Abendessen. Sie breiteten alles vor sich auf dem Wohnzimmertisch aus, doch Kalkbrenner rührte die Reisröllchen mit Fisch nicht an. Stattdessen lauschte er zum Dachboden hinauf. Stille. Es war nichts mehr zu hören.
»Bist du wütend?«, fragte Jessy.
Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln. »Quatsch, ich bin nur …«
Sie pikte ihn mit dem Essstäbchen. »Klar doch, die Maklerin hat dich belogen, und jetzt bist du sauer.«
»Bin ich nicht.«
»Ach, Paps, ich kenne dich doch!«
Er wollte widersprechen, schluckte seinen Drang aber hinunter.
Paps
,
ich kenne dich doch!
Dann war sein Zorn mit einem Mal verraucht, und im Radio gab Westernhagen Weisheiten zum Besten:
Wir geben
,
wir nehmen
,
und was dabei herauskommt
,
ist das Leben.
Kalkbrenner tunkte eine Sushi-Rolle in Sojasauce und balancierte sie dann mit den Stäbchen in seinen Mund. Erstaunlicherweise schmeckte sie ihm – bis Jessy ihn fragte: »Bereust du manchmal, was geschehen ist?«
Etwas in seinem Inneren krampfte sich zusammen. Er wollte sie fragen, was genau sie damit meinte, aber im Grunde wusste er es doch. Genauso wie er hätte ahnen müssen, dass eine Annäherung zwischen ihm und Jessy nur möglich sein
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