Trieb
würde, wenn er endlich über seinen Schatten sprang und bereit war, über das Vergangene zu reden. War das der Grund, warum sie ihn heute angerufen hatte?
Diesmal konnte und durfte
er nicht ausweichen. Seine weitere Beziehung zu seiner Tochter hing von dieser Antwort ab. Aber wie sollte er beginnen?
Am besten ehrlich.
»Jessy, ich weiß, dass ich deine Mutter verletzt habe. Und zwar nicht, weil ich etwas mit einer anderen Frau hatte, sondern weil ich deine Mutter in dem Glauben gelassen habe, dass es sich zwischen uns wieder bessern könnte.«
»Aber es sah doch ganz danach aus, als würde es besser werden?«
»Ja, vielleicht.« Er ließ seinen Kopf hängen. »Nein, eigentlich nicht. Nicht wirklich. Deiner Mutter und mir war längst klar, dass das mit uns nichts mehr werden würde; und mir vielleicht sogar noch ein bisschen klarer als ihr.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das geht mir auch manchmal so. Aber dann habe ich wieder diese Momente der Klarheit. Und dann weiß ich, dass wir zwar zusammenlebten, aber nicht mehr zusammengehörten. Kannst du das nachvollziehen? Deine Mutter und ich, wir lebten aneinander vorbei. Wir waren noch ein Paar, aber nur, weil wir verheiratet waren. Wir klammerten uns aneinander, obwohl wir uns längst nicht mehr zu fassen bekamen.« Jessy hörte ihm aufmerksam zu. Er war ihr dankbar, dass sie ihn nicht unterbrach. »Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, wie es so weit hat kommen können. Aber ich glaube, dass wir am Ende beide Schuld daran haben. So schwer es deiner Mutter fiel, mich und meinen Job zu verstehen, so schwer war es für mich, mich auf sie einzulassen.«
Es überraschte ihn nicht, als er Jessy im nächsten Moment sagen hörte: »Aber du hättest dich ändern können.«
Die Antwort auf die Frage hatte er schon einmal gegeben. Sie war ihm derart präsent, dass er jetzt glaubte, sogar die gleichen Worte wie damals zu verwenden. »Ja, ich habe gedacht, ich könnte etwas ändern. Ich könnte mich
ändern, um noch mal neu anzufangen – mit meinem Leben, meiner Familie, der Arbeit. Aber mein Beruf ist nun mal mein Beruf. Es ist schwer, von ihm loszulassen, denn er ist das, was ich immer wollte. Was ich immer noch will. Und er ist das, was ich am besten kann. Mörder finden. Sie überführen. Daran kann ich nichts ändern, selbst wenn ich wollte. Es ist einfach so.«
Bernie streckte sich und stand auf. Gähnend trottete er zu Kalkbrenner hinüber und legte seine Schnauze auf dessen Oberschenkel.
Streichel mich!
Sein Schweif fegte bittend hin und her. Kalkbrenner fuhr dem Vierbeiner durch den Pelz, was ihn vor Freude nur noch wilder wedeln ließ.
»Aber das alles heißt nicht, dass mir meine Familie nichts bedeutet hat. Im Gegenteil: Ich habe euch zu jeder Zeit geliebt und tue das noch heute. Ich fühle mich deiner Mutter nach wie vor sehr verbunden, auch wenn wir nicht mehr zusammenleben … oder besser: zusammenleben können. Ich bin ihr dankbar für die schöne Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte. Denn die gab es ja auch. Außerdem ist sie die Mutter meiner Tochter, die ich«, er stockte einen Moment und blickte Jessy verunsichert an, »die ich über alles liebe. Ich hoffe, dass du mich verstehst. Und dass du nachvollziehen kannst, dass manchmal nicht alles so einfach ist, wie man es gerne hätte.«
»Keine Sorge. Ich verstehe«, sagte sie. Er forschte in ihrem Gesicht nach einem Urteil, nach Spott oder nach Verärgerung, fand aber nichts dergleichen. Seine Tochter nippte am Rotwein, aß einige Happen Sushi, dann schaute sie auf und lächelte.
Seine Antwort war die richtige gewesen.
Tagesspiegel, Samstag, 14. Januar
Großaufgebot sucht nach vermisstem Jungen
Manuel (10) verschwunden
Berlin. Zwei Tage nach dem Verschwinden des zehnjährigen Manuel Benson aus Prenzlauer Berg fehlt noch immer jede Spur von ihm. »Wir können eine Straftat nicht ausschließen«, sagte ein Polizeisprecher.
Anna Benson, die Mutter des verschwundenen Manuel und Schwägerin des bekannten Künstlers Bernd E. Benson, ist überzeugt davon, dass ihr Sohn lebt. Gestern Abend trat sie vor die Presse und appellierte an die Öffentlichkeit: »Bitte helfen Sie, damit mein Sohn wieder nach Hause kommt.«
Wer hat den Jungen (siehe Foto) gesehen? Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Die Polizei hat unterdessen die Soko »Manuel« mit mehr als 160 Spezialkräften gegründet. Sie sucht in den Berliner Parks mit Spürhunden und einem Hubschrauber mit Wärmebildkamera nach
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