Trieb
weiß, wo du pennen kannst. Ich habe eine Wohnung für dich.‹ Wir Sozialarbeiter wissen: Wenn ein Junge merkt, dass man sich um ihn kümmert, wird man ihn so schnell nicht wieder los. Und genau das wissen leider auch die Frischfleischjäger.«
»Frischfleisch?«, fragten Kalkbrenner und Muth unisono.
»Ja, im Szenejargon werden die Kinder so genannt. Frischfleisch. In Wahrheit aber sind diese Jungs emotional ausgetrocknet, haben zu Hause keine Vaterfigur, an der sie sich orientieren könnten, wachsen ganz ohne Väter auf oder mit solchen, von denen sie geschlagen werden. Sie suchen nach Zuwendung, Nähe, Geborgenheit. Sie wollen ernst genommen werden, mit jemandem reden.«
»Und dann ist da plötzlich jemand, der ihnen zuhört.«
»Genau. Meist entsteht zwischen beiden tatsächlich so etwas wie eine Beziehung. Der Junge bekommt ein eigenes Zimmer, ein richtig schönes Kinderzimmer mit Computer, Fernseher und allem, was sein Herz begehrt. Oft kriegt er sogar den Haustürschlüssel in die Hand gedrückt.«
»Und dafür muss er mit dem Mann …« Kalkbrenner würgte die Worte hervor.
»Müssen? Nun, für den Jungen ist es kein Zwang, nur ein Liebesbeweis. Eine kleine Gefälligkeit, im schlimmsten Falle ein notwendiges Übel. Sie können es sich aussuchen, Herr Kalkbrenner.«
Der Hauptkommissar widersprach. »Aber das ist …«
»… nichts im Vergleich zu dem, was der Junge von dem Mann bekommt«, erstickte Wolfsbach den Protest des Beamten. »Er gibt ihm Aufmerksamkeit, Zuwendung, Nähe und Liebe. Alles das, was er in der Regel zu Hause nicht erhalten hat. Ganz zu schweigen von dem Geld, den Spielsachen, den Klamotten, einem Dach über dem Kopf und dem warmen Essen. Im Klartext: Es geht ihm richtig gut, oft zum ersten Mal in seinem Leben. Und dass er dafür den Arsch hinhalten muss, okay, das ist halt so.«
Halt so.
»Das klingt, als fänden Sie das alles ganz normal.«
»Nein, da liegen Sie falsch. Ich sage Ihnen nur, wie die Jungen die Situation empfinden. Für sie ist alles gut und normal – bis irgendwann der Moment kommt, in dem der vermeintliche Freund ihrer überdrüssig wird und sie weiterreicht. Dann ist die Enttäuschung natürlich riesengroß. Aber oft steht der nächste Mann schon bereit, der sich ebenso fürsorglich und umfassend wie der letzte um den Jungen kümmern wird … Deshalb nennen wir diese Szene auch die Pädo-Kreise, in denen die Jungs von einem zum anderen herumgereicht werden.«
Kalkbrenner sträubte sich gegen die Vorstellung. »Aber die Nachbarn …« Er stockte.
Nee
,
wieso? Die tun doch niemandem was. Was ist denn mit ihnen?
»Ich meine, die müssen doch mitbekommen, dass alle paar Wochen ein neuer Junge bei den Männern auftaucht und dann ein und aus geht.«
»Diese Männer verstehen es, die Struktur der Großstadt für sich auszunutzen. Viele haben eine zusätzliche Wohnung in einem anonymen Plattenbau gemietet.«
»Das heißt, dass diese Männer nicht unbedingt arm sind.«
»Im Gegenteil, oftmals geht es ihnen finanziell ausgesprochen gut. Wie sonst sollten sie sich den Luxus für die Kinder leisten?«
»Also sind es Männer wie …« Kalkbrenner sprach nicht aus, was er dachte: Fielmeister, Radomski, Schulze. Oder Gerd Fugmann. Die bessere Gesellschaft eben.
Unternehmer. Politiker. Ärzte.
»Manche leben auch alleine«, fuhr Wolfsbach fort. »Möglichst in einem sozial schwachen Kiez mit vielen ausländischen oder Großfamilien, in denen es die Eltern häufig nicht interessiert, was ihr Nachwuchs macht. Oft sind die Kinder bis zum späten Abend auf der Straße, treiben sich dort herum. Ein Kind mehr oder weniger, das fällt da gar nicht auf.«
»Aber eine solche offene Wohnung wie die, auf die wir gestoßen sind, kann doch auf Dauer nicht unentdeckt bleiben? Genauso wie das Treiben der erwachsenen Männer mit den Kindern?«
»Wo, sagten Sie, liegt diese Wohnung?«
»In Neukölln. Schillerpromenade.«
»Sehen Sie, das ist eines der Viertel, in denen wir einen besonders hohen Anteil an Männern der Pädo-Kreise vermuten. Viele ausländische Großfamilien leben dort.«
»Und Nachbarn, die nichts gesehen, gehört oder gedacht haben wollen!«, grollte Muth.
»So ist es leider häufig. Die Nachbarn denken nicht mit, ordnen das Treiben nicht sexuell ein. Vielleicht kommt es ihnen komisch vor, aber die wenigsten reagieren.«
Kalkbrenners Mund fühlte sich trocken an, staubig und schal. Er nahm einen Schluck vom Kaffee. Das Getränk war mittlerweile nur noch
Weitere Kostenlose Bücher