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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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haben uns Glück gebracht«, ruft ihm der erfolgreiche Angler nach.
    Enrico schaut sich nicht einmal um.
    Kein wärmender Sonnenstrahl streift an diesem trüben Allerheiligentag den von der Sonne sonst sehr verwöhnten Ort. Den Blick aufs offene Meer gerichtet, die Hände in den Manteltaschen vergraben, stapft er weiter.
    Dichter Nebel hat den einsamen Öltanker und die beiden Containerschiffe, die weit draußen vor Anker liegen, verschluckt. Der Horizont verschwindet, taucht ein in Nebelbänke, die ins Nichts zerfließen. Eine dunkle Wolkenwand baut sich über ihm auf.
    Enrico ist dankbar, wenigstens von der eisigen Bora, die um diese Jahreszeit oft vom Karst herunterweht, verschont zu bleiben. Das monotone Rauschen des Meeres und das Geräusch der Wellen, die an die Betonmauer klatschen, üben eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.
    Hier heraußen spürt man auch an normalen Werktagen nichts von der Hektik der Innenstadt. Nicht einmal der tosende Verkehr auf dem Riva Tre Novembre stört die Müßiggänger und die vielen Angestellten, die hier ihre Mittagspause mit einem Gläschen Prosecco und einem Tramezzini aus dem benachbarten ›Café Tommaseo‹ genießen.
    Enrico dreht sich um, blickt auf die Stadt im Nebel. Heute kann man die Hügel hinter Triest nur erahnen.
    Er ist ein bißchen müde. Trotz bester Kondition ist er doch nicht mehr an soviel Bewegung in frischer Luft gewöhnt. Erst als er nur mehr ein paar Schritte von einer steinernen Bank am Ende des Molo entfernt ist, bemerkt er, daß sie besetzt ist. Nebelschwaden haben das Liebespärchen gnädig verhüllt.
    Da er die beiden nicht stören will, setzt er sich auf einen Poller und versucht, sie nicht anzustarren, aber wenn er aufs Meer schaut, bleibt sein Blick unweigerlich an dem schmusenden Pärchen hängen.
    Er stellt seinen Mantelkragen hoch, zündet sich eine letzte Zigarette an und notiert in seinem Notizbuch Ort und Uhrzeit dieses wichtigen Ereignisses.
    Wehmütige Erinnerungen tauchen auf. In lauen Sommernächten genoß er hier mit Gina an so manchem Abend den Sonnenuntergang, ihr Kopf an seiner Schulter, sein Mund auf ihrem rotblonden Haar und seine Hand auf ihrem Busen ... »Trauriges Glück oder glückliche Trauer?«
    Vor allem am Anfang ihrer Beziehung, als sie noch bei ihrer Mutter, und er bei seinem kranken Vater in der Altstadt wohnte, waren sie fast jeden Abend hier spazierengegangen. Als sie dann in die kleine Wohnung gegenüber dem Bahnhof zogen, hörten diese romantischen Abendspaziergänge auf.
    Eigentlich konnte er sich weder die Wohnung noch Ginas extravagante Wünsche leisten. Er pumpte alle seine Freunde an und mußte jede Menge Überstunden machen, um das Geld wieder zurückzahlen zu können. Die Miete allein fraß die Hälfte seines Lohns. Aber ohne eigene Wohnung hätte er Gina niemals halten können. Sie hatte es bei ihrer ewig keifenden Mutter nicht mehr länger ausgehalten, war wild entschlossen gewesen, mit dem erstbesten Mann, der eine eigene Wohnung besaß, zusammenzuziehen.
    Er wirft die Zigarette ins Wasser. Verärgert über seine Disziplinlosigkeit, wirft er noch ein paar ungerauchte Zigaretten hinterher.
    Und wieder überkommt ihn, wie nach jeder letzten Zigarette, dieses unangenehme Gefühl der Leere. Du kannst nicht mehr lieben. Du kannst nicht mehr arbeiten. Du kannst nicht leben. Du kannst nicht sterben. Du hast Angst zu sterben, Angst vor dem spöttischen Gelächter, das der Tod auslöst. Diese eigenartige Ambivalenz der Gefühle, eine Mischung aus Ruhe und Rastlosigkeit, aus Resignation und ohnmächtiger, verzweifelter Wut, ist ihm nur allzu vertraut. Er verspürt ein starkes Bedürfnis, auf alles einzuschlagen, und weiß gleichzeitig, daß er damit an seiner Situation nichts ändern kann. Aber der Impuls zu handeln, einfach draufloszuschlagen, ist stärker als alles andere.
    Die Umarmungen des Pärchens auf der Bank werden heftiger. Enrico bildet sich ein, leises Stöhnen zu vernehmen. Frustriert verläßt er den gemütlichen Platz auf dem Molo Audace.
    Während er die Piazza Unità, die auch an diesem tristen Novembertag recht belebt ist, überquert, überlegt er, ob er sich im ›Café degli Specchi‹ einen Espresso und eine letzte Zigarette genehmigen soll.
    Vor dem Café schart sich eine Menschentraube um einen Lautsprecherwagen, aus dem abgedroschene Volksmusik dringt. Immer dieselbe Platte, laute, bizarr verzerrte Stimmen. Viele Kinder mit alten Gesichtern und bunten Fähnchen in den geröteten Händchen

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