Triestiner Morgen
Musik. Und es riecht nach Salz und Fisch.
Enrico sieht eine Weile bei der Löschung einer Fracht zu.
Hier wird auch am Feiertag gearbeitet, hier geht es zu wie immer, hier hat sich kaum etwas verändert.
Er verabschiedet sich von Hafen und Meer und spaziert Richtung Innenstadt.
Ein kleiner Platz, nicht viel größer als ein verbreiteter Gehsteig, drängt sich zwischen zwei kaum befahrene Straßen. An der Kreuzung liegt eines seiner Lieblingslokale. Die beiden Tische und die Stühle vor dem ›Bufet Ljublianka‹ sind verwaist. Rostbraune Ränder auf den Tischplatten erinnern jedoch an die vielen Gläser, die hier geleert wurden.
Die Bierreklame über dem Eingang ist beleuchtet. Überrascht, daß Ljublianka ihr ›Bufet‹ auch an einem Feiertag geöffnet hat, betritt er das Lokal.
An den schmalen, langen Holztischen sitzen nur wenige Gäste. Ein älteres Ehepaar langt bei Gulasch mit Polenta kräftig zu. Sie sind so sehr ins Essen vertieft, daß sie Enrico keines Blickes würdigen. Auch der junge Mann am Spielautomaten, gleich neben der Tür, blickt nicht einmal auf, als die Türglocke ertönt.
Hinter der Theke steht ein dicklicher Mann, Mitte Zwanzig. Er starrt auf einen Fernsehschirm, ignoriert den neuen Gast ebenfalls, schreit allerdings laut: »Mama!«
Ljublianka kommt aus der Küche gestürzt. Ihr ohnehin rosiges Gesicht ist vom Küchendunst stark gerötet. Sie wischt sich die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab, begrüßt Enrico mit einem strahlenden Lächeln und fragt ihn, ob er etwas zu essen möchte.
Obwohl er keinen Appetit hat, läuft ihm angesichts all der deftigen Köstlichkeiten in der gläsernen Vitrine auf der Theke und bei all den wunderbaren Düften, die aus der Küche strömen, doch das Wasser im Mund zusammen. Aber er bringt kein Wort heraus. Bei Ljubliankas Anblick hat es ihm die Sprache verschlagen.
Er hat die Liebliche nicht wiedererkannt. Der Mittelpunkt aller feuchten Jugendträume von Enrico und seinen Freunden, ist alt und furchtbar fett geworden. Ihre kleinen, fröhlichen Äuglein verschwinden fast völlig zwischen den feisten Wangen und der stark gewölbten Stirn. Ihre ehemals prachtvollen Brüste hängen ihr bis zum Bauch, und ihr Bauch hängt weit hinunter, fast bis auf die kräftigen Schenkel, die sich deutlich unter ihrem dünnen, schwarzen Kleid abmalen. Die Knöpfe am Busen stehen offen.
Offensichtlich hat die arme Ljublianka auch gesundheitliche Probleme, ihre Gelenke sind dick geschwollen, die Beine voller Wasser, und sie bekommt kaum Luft, schnauft schwer bei jedem Schritt.
Voll Wehmut denkt er an seine ersten Besuche in diesem Lokal, lange bevor er Gina kennenlernte. Er und Giorgio konnten sich damals kaum ein Coca-Cola leisten, aber sie kamen täglich um die Mittagszeit ins ›Bufet‹ und verzehrten die junge Wirtin, die auch damals nicht durch Schlankheit glänzte, mit begehrlichen Blicken. Wenn sich die Liebliche über den Tisch beugte, und sie einen kurzen Blick auf ihre prallen Kugeln erhaschen konnten, bedeutete das die absolute Glückseligkeit für die beiden Burschen. Anschließend hatten sie es dann immer sehr eilig auf die Toilette zu verschwinden. Ja, auch Ljublianka hatten Giorgio und er brüderlich miteinander geteilt.
Schmunzelnd erinnert er sich, wie Giorgio es einmal gewagt hatte, die schöne Ljublianka in den prächtigen, runden Arsch zu kneifen. Anstatt des Freundes war er knallrot angelaufen und hatte sich einen nicht allzu festen Klaps von der Lieblichen eingehandelt.
Auch mit Gina kam er öfters zum Essen hierher. Doch eigenartigerweise konnte Ljublianka seine Gina nicht leiden. Die Antipathie war gegenseitig und seine Besuche im ›Bufet‹ wurden seltener und hörten schließlich ganz auf.
Noch einmal entkommt ihm ein Schmunzeln. Vielleicht hat die um mindestens zehn Jahre ältere Frau unsere Bewunderung und Verehrung damals durchaus bemerkt und sogar genossen? Zumindest hat sie uns immer mit einer Portion Käse oder ein paar Scheiben Salami auf Kosten des Hauses verwöhnt. – Der fette Kerl hinter der Theke, der die blödsinnige Show im Fernsehen lautstark kommentiert, ist bestimmt ihr Sohn, denkt Enrico. Er sieht ihr sogar ähnlich, nicht nur weil er fast so dick ist wie sie, er hat auch die gleiche, undefinierbare Haarfarbe — ein fades Aschblond — und den gleichen üppigen Schmollmund. Vage erinnert er sich, daß bei seinen seltenen Besuchen in späteren Jahren, ein ständig kreischendes Kleinkind zwischen Ljubliankas schon
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