Triestiner Morgen
folgen stumm dem unerträglichen Gekreische. Die Erwachsenen lauschen, nicht minder ehrfürchtig, einem gut gekleideten Mann, der ihnen erklärt, warum es in Zukunft zwei Italien geben muß. Auch Enrico hört dem Geschrei des Wahlkämpfers eine Weile zu, liest die Parolen auf den Plakaten am Lautsprecherwagen und in den Auslagen der umliegenden Geschäfte und wendet sich dann kopfschüttelnd ab. Ein geteiltes Italien ist nicht seine Sache. Außerdem sind ihm zu viele Menschen auf dem Platz.
Er beschließt, seinen Espresso im Bahnhofscafé zu trinken. Vor dem Rathaus formiert sich gerade eine Gruppe linker Demonstranten. Sie rollen ihre Transparente aus und beginnen den politischen Gegner mit Sprechchören aus dem Konzept zu bringen. Und plötzlich verwandelt sich die Piazza Unità in ein Meer aus blauen Uniformen. Enrico schaut, daß er rasch weiterkommt. Mühsam kämpft er sich durch die Menschenmenge, biegt ein in die schmale Straße, die sich zur Börse hin öffnet, eilt am Tempel der Giorgios und Livios von heute vorbei, versucht zwischen den unzähligen, lärmenden und stinkenden Vespas den Corso Italia zu überqueren und atmet erst wieder tief durch, als er den Canal Grande erreicht.
Am Ufer dieses kleinen, theresianischen Kanals erschien ihm seine Stadt immer lieblich und majestätisch zugleich. Die beiden prunkvollen Kirchen, die sanften Farben der Häuserfassaden, die überschwengliche Pracht der Blumenstände, die selbst heute Wolken, Regen und Nebel trotzen, die kleinen, bunten Boote, die im kaum bewegten Wasser schaukeln ...
Enrico verweilt nicht lange an diesem beschaulichen Ort. Ein heftiger Regenschauer schlägt ihn in die Flucht. Er taucht ein in das von Mopeds und hupenden Autofahrern verursachte Chaos auf der Via Roma und drückt sich an den Hausmauern entlang, um den schweren Tropfen zu entkommen.
Plötzlich ist es wieder grau in der Stadt. Wenn die Leute in ihre Mietskasernen flüchten und sich hinter ihren dicht verhangenen Fenstern verstecken, wenn Lethargie und Langeweile über die sauberen Einfamilienhäuser in den Vororten hereinbrechen, dann gehört die Stadt dem Nebel und dem Meer. Gestank beherrscht die Luft, Kot und Unrat bedecken das Pflaster, und bei Regen verwandelt sich die ganze Hafenstadt in eine stinkende Kloake.
Enrico ist beim Bahnhof angelangt. Das Cafè ist überfüllt, nicht einmal an der Theke ist ein Platz frei.
Unschlüssig bleibt er an der Tür stehen, einerseits möchte er noch die Altstadt besuchen, schauen, ob das vor dreißig Jahren schon abbruchreife Haus, in dem er mit seinem Vater lebte, noch steht, andererseits fürchtet er, daß sich auch dort alles verändert hat. Seine Angst vor Enttäuschung ist größer als seine Neugier. Er beschließt, dem Punto Franco Vecchio einen kurzen Besuch abzustatten. Der Regen hat inzwischen etwas nachgelassen.
Die alten, baufälligen Magazine aus dem vorigen Jahrhundert besitzen nach wie vor einen gewissen Charme. Sie erinnern ihn an verwunschene Märchenschlösser, verwachsen mit Efeu und wildem Wein, hinter deren verschlossenen Türen sich unsagbare Schätze, Tonnen von Baumwolle, Zucker und Kaffee, verstecken. Enrico bildet sich ein, den Duft von gebrannten Bohnen zu riechen.
Die Straßenlaternen stammen aus den fünfziger Jahren. Er ist überzeugt, daß die Lampen schon lange nicht mehr gebrannt haben. Die meisten Lagerräume sind leer, die Türen sperrangelweit offen. Die Pawlatschen, gestützt auf gußeiserne Säulen, befinden sich jedoch in ganz passablem Zustand. Ein paar verlorene Schafe suchen darunter Schutz vor dem Regen. Ihr Blöken macht Enrico nervös.
Auf den Gleisen stehen zwei einsame Güterwaggons. Aus dem einen Waggon klingt ängstliches Quieken. Er blickt sich um. Keine Menschenseele weit und breit. Rasch versucht er die Waggontür zu öffnen. Der üble Geruch, der ihm beinahe den Atem raubt, läßt ihn von seinem Vorhaben wieder Abstand nehmen.
Die Lebendtiertransporte gingen doch von hier immer in arabische Länder. Seit wann essen Araber Schweinefleisch, fragt sich Enrico verwundert.
Verwittertes Holz, mannshoch gestapelt, verwehrt ihm die Sicht auf den hinteren Teil des alten Freihafens. Der protzige Leuchtturm des Sieges weist ihm den Weg.
Rostige Ankerketten, riesige, ebenfalls verrostete Anker, unbenützte Kräne, veraltete Eisenbahnkonstruktionen und plumpe Kähne, die ihre Reise schon hinter sich haben –, das alte Hafenbecken scheint endgültig ausgedient zu haben.
An einigen Gebäuden
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