Trigger - Dorn, W: Trigger
bedachte Ellen mit einem gönnerhaften Lächeln. »Nun erholen Sie beide sich erst einmal. Betrachten wir die Sache als erledigt.«
Auch Ellen stand auf, wollte sich aber keineswegs so schnell abspeisen lassen. »Eines würde ich gern noch wissen.«
»Und das wäre?«
»Einerseits loben Sie meine Kompetenz, aber Sie glauben mir ebenfalls nicht, dass es diese Frau gibt und dass sie von der Station verschwunden ist.«
»Doch, Frau Kollegin, ich glaube Ihnen. Zugegeben, es kommt mir etwas merkwürdig vor, dass niemand außer Ihnen von dieser Patientin wusste, aber …«, er machte eine hilflose Geste, »nun ja, auch das beste Team ist nicht gegen Fehler gefeit.«
»Ein Fehler? Mehr ist dieser Fall für Sie nicht?«
»Ellen, ich bitte Sie. Versuchen Sie es doch einmal von meiner Warte aus zu betrachten. Es gibt immer wieder Patienten, die aus geschlossenen Stationen entweichen. Deshalb sehe ich jedoch keinen Grund, weshalb meine Ärzte Sherlock Holmes spielen müssten. Das ist Aufgabe der Polizei.«
»Erinnern Sie sich an den verwirrten Obdachlosen ohne Papiere, der uns vor zwei Jahren bei einer Brandschutzübung weggelaufen ist? Obwohl die Polizei eine Fahndung einleitete, weiß man bis heute nicht, was aus dem Mann geworden ist. Glauben Sie, die werden sich mehr Mühe mit dieser Patientin geben, von der wir ebenfalls nichts wissen?«
Nun wurde Fleischer ungeduldig. Er sah auf seine Armbanduhr und dann zu seinem Terminkalender. »Solche Fälle sind bedauerlich, aber wir werden damit leben müssen. Vor allem Sie werden damit leben müssen, Ellen. Sie nehmen sich jetzt eine Woche Erholungsurlaub. In dieser Zeit haben Sie im Klinikbetrieb nichts verloren. Alle weiteren Entscheidungen zur Vorgehensweise in diesem Fall überlassen Sie mir. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»O ja, das haben Sie.«
»Dann ist gut.« Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und ging zur Tür. »Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zu einer Besprechung.«
Als Ellen das Verwaltungsgebäude verließ, standen für sie zwei Dinge fest: Sie würde sich umgehend nach einer neuen Stelle umsehen, aber vorher würde sie Silvia Janov einen Besuch abstatten.
Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Fall. Und sie wollte herausfinden, was es war. Jetzt erst recht!
Kapitel 11
Sicherlich wusste kaum ein Bewohner der Immanuel-Kant-Straße, wer ihr Namensgeber gewesen war. Die Straße gehörte zu einem Wohnviertel, das als sogenannter sozialer Brennpunkt traurige Berühmtheit erlangt hatte.
Auf eine Reihe schmutzig-grauer Mehrfamilienhausfassaden folgten die heruntergekommenen kleinen Schnellbauten einer Wohnsiedlung aus den frühen Fünfzigern. Ursprünglich hatten dort die Arbeiter eines großen Elektrokonzerns mit ihren Familien gelebt, bis vor gut fünfzehn Jahren das Werk stillgelegt worden war.
Allmählich hatte sich die ehemalige Arbeitersiedlung in einen Abschiebeort für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger verwandelt. An den einstmals weißen Fassaden mit den blühenden Geranienkästen prangten nun Graffiti jeglicher
Art und Größe – von NAZIS RAUS über FUCK! bis hin zu NO FUTURE.
Auch die Doppelhaushälfte mit der Nummer 27b, in der Silvia Janov lebte, befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Das Dach wirkte schon von Weitem undicht und gehörte längst neu gedeckt, und der graubraune Rauputz war an unzähligen Stellen abgebröckelt. Dagegen nahmen sich die neuwertige Satellitenschüssel und der signalrot lackierte Briefkasten wie verirrte Fremdkörper aus. Offensichtlich schienen die Bewohner der Immanuel-Kant-Straße 27b mehr Wert auf ein breit gefächertes Fernsehprogramm als auf ein dichtes Dach oder die Pflege des Vorgartens zu legen.
Ellen parkte neben einer umgekippten Mülltonne, in der ein ausgemergelter Kater nach etwas Fressbarem stöberte. An der gegenüberliegenden Hauswand übten sich vier junge Männer in übergroßen Trainingsanzügen in einem Spiel, das wohl Wer-kann-am-höchsten-die-Wand-hinaufpinkeln hieß. Als sie Ellen bemerkten, drehte sich der größte von ihnen zu ihr um und deutete demonstrativ auf sein Prachtstück, wofür er den grölenden Applaus seiner Kumpels erntete.
Ellen ignorierte die Halbstarken so gut es ging und atmete tief durch. Begleitet von höhnischem Gelächter, öffnete sie das quietschende Gartentürchen und ging durch den verwilderten Vorgarten auf das Haus der Janovs zu.
Sie war kaum bei der Haustür angelangt, als ein kräftiger Mann Mitte vierzig heraustrat. Sein
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