Trigger - Dorn, W: Trigger
Stunde vergangen, ehe er sie zu sich zitiert hatte.
Ellen hatte erwartet, dass er sie anfahren und ihr eine ordentliche Abmahnung verpassen würde. Stattdessen verhielt sich der für sein Temperament berüchtigte Klinikleiter erstaunlich ruhig. Fast schon zu ruhig, wie sie fand. Er bot ihr sogar Tee an. Dabei fielen ihr seine zarten, langgliedrigen Finger auf, die überhaupt nicht zu seinem kräftigen Erscheinungsbild passen wollten.
»Meine liebe Frau Dr. Roth«, begann Fleischer, und der ungewohnt ruhige Tonfall seiner Stimme verursachte ihr eine Gänsehaut. »Ich denke, ich muss Ihnen nicht erklären, warum wir hier zusammensitzen. Ich frage auch nicht nach dem Grund für das, was Sie getan haben. Wir sind beide lange genug in der Psychiatrie tätig, um zu wissen, dass es immer einen Grund für eine Handlung gibt, ganz gleich, ob dieser für unser Umfeld sinnvoll scheint oder nicht.«
»Ich würde mich trotzdem gern zu diesem Sachverhalt …«, setzte Ellen an, doch Fleischer unterbrach sie mit einer abwehrenden Geste.
Er wird mich feuern. Deshalb ist er so ruhig. Er will nicht, dass ich mich hier lautstark rechtfertige, sondern genauso ruhig bleibe wie er, auch nachdem er mich gefeuert hat, dachte Ellen .
»Frau Dr. Roth, die Waldklinik ist ein alteingesessenes, renommiertes Fachkrankenhaus für Psychiatrie mit achtzehn Stationen, dem sich jährlich mehr als zwölftausend Patienten anvertrauen. Wir beschäftigen nahezu sechshundert Mitarbeiter. Jeder Einzelne davon ist hervorragend qualifiziert, und sieht man einmal von unserem wunderbaren Parkgelände ab, fußt der gute Ruf unserer Klinik insbesondere
auf unserem fachkundigen und kompetenten Service. Wir sind ein hervorragendes Team, von der Reinigungskraft bis zu den Chef- und Oberärzten, und Sie, Ellen, sind mir stets positiv aufgefallen, seit Sie vor vier Jahren zu uns kamen.«
Mit fast schon theatralischer Langsamkeit nippte Fleischer an seinem Tee und stellte die Tasse auf dem Untersetzer ab. »Aber ein Team funktioniert nur, wenn keiner aus der Reihe tanzt. Und Ihre Aktion von vorhin war schon … nun ja, sagen wir, ein Solotanz jenseits aller Regeln.«
»Eine Patientin ist mitsamt ihrer Akte von meiner Station verschwunden«, platzte Ellen heraus. »Alles, was ich will, ist …«
»Ich weiß, was Sie wollen«, warf Fleischer ein. »Ich habe mich über den Vorfall in Kenntnis setzen lassen. Ich weiß auch von der enormen psychischen Belastung, der Sie gestern bei diesem Beinahe-Suizid ausgesetzt waren.«
Ellen spürte, wie sie krebsrot anlief. Was sollte das heißen? Hatte Mark sich doch mit Fleischer in Verbindung gesetzt, obwohl sie ihn ausdrücklich gebeten hatte, es nicht zu tun? Glaubte Fleischer nun ebenfalls, sie sei überspannt?
Ellen verkniff sich eine Bemerkung und ließ Fleischer weiterreden. Na los, bringen wir es hinter uns. Schmeiß mich schon raus, das willst du mir doch sagen, oder?
»Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ereignis nicht spurlos an Ihnen vorübergegangen ist«, sagte Fleischer und sah sie dabei eindringlich an. »Dafür haben Sie mein vollstes Verständnis. Dennoch kann ich Ihnen Ihr Handeln von vorhin nicht so einfach durchgehen lassen. Ich habe Konsequenzen zu ziehen. Andererseits will ich eine so gute Kraft
wie Sie auch nicht verlieren, Ellen. Deshalb möchte ich, dass Sie sich eine Woche freinehmen. Sie haben sicherlich noch ein paar Urlaubstage übrig. Wenn Sie meinem Vorschlag zustimmen, werde ich von einer Abmahnung und einer Eintragung in Ihre Personalakte absehen. Ja, ich werde sogar den Leiter unserer Nachbarklinik davon zu überzeugen versuchen, keine rechtlichen Schritte gegen Sie einzuleiten.«
»Aber ich habe …«
»Was Sie haben oder nicht haben, tut nichts zur Sache. Akzeptieren Sie meinen Vorschlag?«
Ellen blieb keine andere Wahl, als Fleischers Angebot anzunehmen. Eine Abmahnung oder gar eine Kündigung konnten fatale Auswirkungen auf ihre weitere Karriere haben.
»Sehr gut.« Fleischer war sichtlich zufrieden. »Ich wusste doch, dass wir uns einigen würden. Sie werden sehen, dieser kleine Urlaub wird Ihnen guttun. Und danach geht es wieder frisch und erholt an die Arbeit. Manchmal muss man die Leute zu ihrem Glück zwingen. Da haben Sie viel mit Ihrem Lebensgefährten gemeinsam, wenn ich das mal so frei sagen darf. Kollege Lorch hat seine drei Wochen auch nur auf meinen Druck hin genommen, und dabei handelte es sich noch um Resturlaub.«
Fleischer erhob sich aus seinem Ledersessel und
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