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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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argwöhnisch an.
    »Was denn, glaubst du mir nicht?«, fragte Pakin.
    »Doch«, sagte Rakukin.
    »Dann setz dich hierher, in diesen Sessel«, sagte Pakin.
    Rakukin setzte sich wieder in seinen Drehsessel.
    »Na bitte«, sagte Pakin, »was sitzt du da in deinem Sessel wie ein Idiot?«
    Rakukin bewegte die Beine und blinzelte ganz schnell.
    »Lass das Blinzeln«, sagte Pakin.
    Rakukin hörte auf zu blinzeln, machte den Rücken krumm und zog den Kopf ein.
    »Setz dich gerade hin«, sagte Pakin.
    Rakukin, der weiterhin krumm dasaß, streckte den Bauch raus und machte den Hals lang.
    »Ha«, sagte Pakin, »am liebsten würde ich dir die Schweinefresse polieren!«
    Rakukin schluckte, blies die Backen auf und ließ dann vorsichtig die Luft durch die Nase entweichen.
    »He du, pluster dich nicht auf!«, sagte Pakin zu Rakukin.
    Rakukin machte den Hals noch länger und blinzelte wieder ganz, ganz schnell.
    Pakin sagte:
    »Rakukin, wenn du nicht sofort aufhörst zu blinzeln, dann tret ich dir in die Eier.«
    Um nicht wieder zu blinzeln, schnitt Rakukin eine Grimasse, machte den Hals noch länger und warf den Kopf zurück.
    »Pfui Teufel, wie ekelhaft du aussiehst«, sagte Pakin.
    »Eine Visage wie ein Huhn, der Hals blau, einfach widerlich!«
    Währenddessen fiel Rakukins Kopf immer weiter zurück und kippte schließlich, da die Spannung raus war, ganz auf den Rücken. »Was soll der Blödsinn?«, rief Pakin. »Was soll das Theater?«
    Wenn man von Pakin zu Rakukin sah, hätte man meinen können, dass Rakukin ganz ohne Kopf dasaß.
    Rakukins Adamsapfel ragte in die Höhe. Man dachte unwillkürlich, das sei eine Nase.
    »He, Rakukin!«, sagte Pakin.
    Rakukin schwieg.
    »Rakukin!«, wiederholte Pakin.
    Rakukin antwortete nicht und saß weiterhin vollkommen reglos da.
    »Aha«, sagte Pakin.
    »Rakukin ist krepiert.«
    Pakin bekreuzigte sich und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
    Ungefähr vierzehn Minuten später kam eine kleine Seele aus Rakukins Körper herausgekrabbelt und blickte grimmig auf die Stelle, an der gerade erst Pakin gesessen hatte. Doch da kam die große Gestalt des Todesengels hinter dem Schrank hervor, nahm Rakukins Seele bei der Hand und führte sie irgendwohin fort, mitten durch Mauern und Häuser. Rakukins Seele rannte hinter dem Todesengel her und schaute sich alle naselang grimmig um. Doch dann legte der Todesengel einen Schritt zu, und Rakukins Seele verschwand hüpfend und stolpernd in der Ferne hinter einer Straßenecke.
     
    <1939>
     

    »Das Wunder« Zeichnung von Daniil Charms 1919

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Der Wundertäter
    Nachwort des Herausgebers
     
    Die wohl tragischste Geschichte, die Daniil Charms erzählt, ist die Geschichte des Wundertäters, der zeit seines Lebens kein einziges Wunder vollbringt. Es fällt leicht, in ihr Charms’ eigenes Schicksal zu erblicken. Es fällt leicht, zwischen dem Mann, der geduldig alle Widrigkeiten erträgt, obwohl er sich seiner verborgenen magischen Fähigkeiten durchaus bewusst ist, und ihm, der kaum je eine Chance hatte, sein literarisches Talent auf gebührende Weise zu entfalten und stattdessen zu einem hilflosen und bedrohten Außenseitertum verdammt war, eine Parallele zu ziehen. Es fällt leicht – möglicherweise zu leicht. Zumal der Kern des Vergleichs hinkt: Denn im Gegensatz zu jenem unglück lichen Wundertäter hat Charms, allen Hindernissen zum Trotz, in Leben und Werk stets Wunder gewirkt. Wunder haben sich sogar nach seinem Tode noch fortgesetzt. Bis in unsere Tage hinein …
    Als Wunder erscheint zum Beispiel die Rettung fast aller uns vorliegenden Manuskripte – der spontane Entschluss des Philosophen Jakow Druskin die halbzerbombte Wohnung seines im August 1941 verhafteten und im Februar 1942 im Gefängniskrankenhaus gestorbenen Freundes aufzusuchen und dasjenige, was sich an Texten mitnehmen ließ, mitzunehmen. Sie wären ansonsten mit größter Wahrscheinlichkeit in den Kriegswirren verlorengegangen. So aber konnte Druskin das Gros des Charms-Archivs in einem Koffer verstauen und darin jahrzehntelang aufbewahren.
    Als Wunder erscheint auch schon die Anwesenheit der Manuskripte in der besagten Wohnung. Im Zuge der zweiten Verhaftung von Charms am 23. August 1941 war nämlich eine Hausdurchsuchung durchgeführt worden – und, wie immer in solchen Fällen, mit dem Ziel, belas tendes Material zu finden. Doch die Menge der aufgelisteten und von den Organen tatsächlich beschlagnahmten Papiere ist auffällig gering, ja, gemessen am Rest, beinahe

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