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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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Petrow
     
    Iwan Iwanowitsch Sussanin (eben jene historische Figur, die ihr Leben für den Zaren opferte und hernach in einer Oper von Glinka besungen wurde) ging einmal in eine Garküche, setzte sich an einen Tisch und bestellte ein Kotelett. Während der Wirt das Kotelett briet, kaute Iwan Iwanowitsch an seinem Bart herum und begann zu grübeln; das machte er immer so.
    Es vergingen fünfunddreißig Pflöcke Zeit, und der Wirt servierte Iwan Iwanowitsch das Kotelett auf einem runden Holzbrett. Iwan Iwanowitsch hatte Hunger, nahm nach Sitte der damaligen Zeit das Kotelett in beide Hände und fing an zu essen. Da es Iwan Iwanowitsch überaus eilig hatte, seinen Hunger zu stillen, stürzte er sich dermaßen gierig auf das Kotelett, dass er versäumte, seinen Bart aus dem Mund zu nehmen und das Kotelett samt einem Stück Bart verputzte.
    Und genau da passierte etwas Unangenehmes, denn es waren noch keine fünfzehn Pflöcke Zeit vergangen, als Iwan Iwanowitsch fürchterliches Bauchgrimmen bekam. Iwan Iwanowitsch sprang vom Tisch auf und stürzte nach draußen. Der Wirt wollte Iwan Iwanowitsch noch hinterherschreien: »Heda, dein Bart, er deucht mich weidlich ausgefranst.« Doch Iwan Iwanowitsch sah und hörte nichts und rannte nach draußen. Da hieb der Bojar Kowschegub, der in einer Ecke der Garküche saß und Most trank, mit der Faust auf den Tisch und rief: »Wer ist er, jener da?« Der Wirt verbeugte sich tief und antwortete dem Bojaren: »Jener, das ist unser Patriot Iwan Iwanowitsch Sussanin.« »Sieh einer an!«, sagte der Bojar und trank seinen Most aus.
    »Belieben der Herr vielleicht etwas Fisch?«, fragte der Wirt. »Scher er sich fort!«, schrie der Bojar und warf mit der Kelle nach dem Wirt. Die Kelle sauste mit einem Pfeifen am Kopf des Wirtes vorbei, dann durchs Fenster nach draußen und traf den verdächtig dort hockenden Iwan Iwanowitsch mittenins Gesicht. Iwan Iwanowitsch fasste sich an die Backe und fiel um.
    Da kam Karp von rechts aus der Scheune gerannt, hechtete über einen Trog, in dem zwischen allerlei Küchenabfällen ein Schwein lag, und rannte schreiend zum Tor. Aus der Garküche guckte der Wirt heraus. »Was schreist du da?«, rief er Karp zu. Doch Karp lief ohne eine Antwort davon. Der Wirt ging nach draußen und sah Sussanin reglos auf der Erde liegen. Der Wirt ging näher heran und schaute ihm ins Gesicht. Sussanin starrte den Wirt an. »Also bist du noch am Leben?«, fragte der Wirt. »Freilich, aber mich graust, dass mir noch mal einer was an den Kopf wirft«, sagte Sussanin. »Nein«, sagte der Wirt, »du brauchst dich nicht zu grausen. Es war der Bojar Kowschegub, welcher dich ums Haar erschlagen hätt, aber der ist derweilen auf und davon.« »Dem Herrn im Himmel sei Dank!«, sagte Iwan Sussanin und stand auf. »Ich bin ein tapferer Mann, bloß halt ich den Kopf nicht gern um nichts hin. Darum blieb ich am Boden liegen und wartete, was weiter kommt. Noch eine Kleinigkeit, und ich wär auf dem Bauch bis zur Jeldyrina Sloboda gekrochen … Ojemine, meine Backe, die hat’s aber erwischt. Du lieber Gott! Der halbe Bart ist weg!« »Das war schon vorher so«, sagte der Wirt. »Wie, schon vorher?«, schrie der Patriot Sussanin. »Willst du behaupten, ich sei mit ausgefranstem Barte umhergelaufen?« »Jawohl«, sagte der Wirt. »Ach, du Lumpazi«, stieß Iwan Sussanin hervor. Der Wirt kniff die Augen zusammen, holte aus und pfefferte Sussanin mit voller Wucht eine aufs Ohr. Der Patriot Sussanin krachte zu Boden und erstarrte. »Da hast du! Selber Lumpazi!«, sagte der Wirt und verschwand in seine Garküche. Einige Pflöcke Zeit lag Sussanin auf der Erde und lauschte. Da er aber nichts Verdächtiges hörte, hob er vorsichtig den Kopf und sah sich um. Auf dem Hof war niemand, wenn man von dem Schwein absah, das aus dem Trog herausgeklettert war und sich jetzt in einer Dreckpfütze suhlte. Iwan Sussanin robbte aufs Tor zu, wobei er sich die ganze Zeit umsah. Das Tor war zum Glück offen, und der Patriot Iwan Sussanin kroch, sich wie ein Wurm am Boden schlängelnd, in Richtung Jeldyrina Sloboda.
    Das war eine Episode aus dem Leben der berühmten historischen Gestalt, die ihr Leben für den Zaren opferte und hernach in einer Oper von Glinka besungen wurde.
     
    1939
     
    Wsewolod N. Petrow (1912–1978), Schriftsteller und Freund von Charms. Iwan Sussanin (Anfang 17. Jahrhundert), ein russischer Bauer aus dem Dorf Domnino, wurde, der Legende nach, von den polnischen Heeren gebeten, ihnen den Weg

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