Trisomie so ich dir
sprechen ohne denken, also schweigt Roy, weil er weiß, dass auch Sprechen zu nichts führen würde, und er tut Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer, und die Zeit schleicht wie eine orientierungslose Eidechse durch den Raum und wirkt, als habe sie sich verlaufen, weil es manchmal so erscheint, als mache sie auf einen Schritt nach vorn gleich zwei wieder in die entgegengesetzte Richtung.
Dann passiert was. Ja, endlich passiert was. Jemand schreit. Dadurch animiert schreien vier weitere. Einfach so, weil niemandem von denen, die schreien, eine adäquatere Reaktion auf die Lärmverursachung einfällt. Ein epileptischer Anfall passiert einer jungen, schutzbehelmten Frau, die wie ein langsam fallender Baum von ihrem Stuhl auf den Boden gleitet, fast zeitlupenungeschwind, und dort arhythmisch zu zucken beginnt, und dabei läuft ihr Speichel quer durchs Gesicht und sie beißt sich auf die Zunge, und da kommt ein roter Faden Blut mit durch den Speichel und irgendein Mann kommt daher gelaufen und bückt sich zu ihr hinunter. Überprüft den Status und die Länge des Anfalls, während der Körper der jungen Frau sich wie unter akzentuierten Stromschlägen aufzubäumen scheint. Der Herbeigeeilte ist ein Mitarbeiter, und seine Behandlungsweise, die er der jungen Frau zukommen lässt, wirkt wie ein routinierter Arbeitsschritt. Er achtet darauf, dass keine Gegenstände, an denen sich die junge Frau eventuell selbst beschädigen könnte, irgendwo herumstehen und lässt sie dann im freien Raum auszucken. Das Gesicht der jungen Frau entgleist und weist den Ausdruck von etwas schier der Welt entrücktem auf. Roy kennt Johannas Anfälle.
Einige arbeiten weiter, andere benutzen die Ablenkung durch diesen Zwischenfall, um ihrerseits Lautäußerungen zu machen, weil ihnen sonst nichts einfällt, ihr Mitgefühl auszudrücken. Eine dicke Frau mit einer grünen Mütze, auf der Werbung für Traktoren und andere Landmaschinen stattfindet, murmelt: »Arme Johanna, die arme Johanna, Johanna, die Johanna, arme Johanna, die Johanna, die, die, die, die Johanna, arme Johanna …« Es klingt wie ein Gebet, das niemand je empfangen wird. Johannas Zucken wird nach zwei Minuten etwas weniger, ihre Gesichtszüge werden ruhiger, der Helfer hat sich ein gutmütiges Lächeln ins Gesicht gestemmt, was das Erste sein wird, was Johanna, nach dem Anfall sehen wird. Johanna bleibt noch ein wenig auf dem Boden liegen, liegt da und atmet heftig wie eine Elefantenkuh nach dem Kalben, und der Mann weist einen Praktikanten an, die Spucke und das Blut vom Boden zu wischen, was dieser mit etwas Widerwillen erledigt. Ewig diese flüssigen Hinterlassenschaften dieser unselbstständigen Leute, die außer Kontrolle geraten sind, denkt sich der Praktikant noch, putzt und desinfiziert den vollgemachten Bereich, und dann wird Johanna aufgeholfen. Sie wirkt noch ein wenig benommen, wie ein zu Boden gegangener Boxer, der mit gezielten Kopfschlägen zertrümmert werden sollte, und wird auf ihren Sitzplatz begleitet, wo sie auch unverzüglich mit ihrer Arbeit beginnt. Auch sie gibt Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer und freut sich ihrer Beschäftigung. An ihre Anfälle erinnert sie sich, nach dem sie geschehen sind, nicht mehr, spürt nur eine mittelschwere Erschöpfung im Kopf und im Bewegungsapparat, denkt sich aber nichts Böses oder gar Epileptisches dabei. Da ist immer eine Art Erschöpfung in Johannas Kopf, immer eine Erschwernis zu denken, und ein paar Steine trägt sie im Kopf, die ihre Bewegungen verlangsamen. Johanna arbeitet weiter, arbeitet einfach weiter, weiß nicht, dass sie eben auf dem Boden lag, sondern macht weiter mit den Schrauben und den Tüten, etwas langsamer als zuvor, aber das Weitermachen mit automatisierten Handlungen wirkt wie eine Serienwiederholung, die sie aber nicht zu langweilen scheint.
Mit der Epileptikerin Johanna hatte Roy seine ersten sexuellen Erfahrungen. Das war vor vier Jahren und machte Roy mit der Tatsache vertraut, dass alles, was ihm bislang von seinen Eltern, Lehrern und sonstigen Weisungsbefugten über Sexualität erzählt worden ist, nicht stimmte. Johanna war immer schon ein enorm sexuell aufgeladenes Wesen gewesen, ein hormonspritzendes Biest, immer auf der Suche nach leichten Opfern. Roy hat das gewusst, und da er als ein Naivling gilt, trug es sich in einer Mittagspause zu, dass Johanna den schweigenden Roy an die Hand nahm und ihn ins Materiallager führte. Niemandem fiel das auf, denn in der Mittagspause rannten
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