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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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kennenlernen durfte, täglich in Johannas Unterhose vermutet. Er empfindet den Gestank von langsam vor sich her siechendem, stetig tröpfchenweise sickerndem Urin, durch den ab und an eine muffige Gaswolke weht, die Streifen hinterlässt. Wer so ein Leben lebt, welches an dem Gefühl rührt, durch derartigen Geruch gekennzeichnet zu sein, der wünscht sich wahrlich eine große Behinderung mit Scheißegalfaktor, wie Johanna sie hat, oder aber eine flinkes Dahinscheiden. Oder aber ein ganz anderes Leben, das noch erfunden werden muss.
    Jede scheiß Sekunde tickt laut in Roys Kopf, lacht ihn aus, verlacht ihn wegen seiner Behinderung, wegen dieser Arbeit, wegen allem, was er ist, und auch aufgrund der Tatsache, dass sich Roy gerne Hoffnungen hingibt. Hoffnungen, so meinen die Sekunden, halten euch beschissene Uhrenbenutzer doch nur von der Realitität, also vom wirklichen Leben fern. Hoffnungen, so meinen die Sekunden, sind für blöde Romantiker, für die, die nicht checken, dass die Zeit ohnehin vergeht und dass es nur wichtig ist, wie man sie füllt, und nach Ansicht der Sekunden ist die Zeit, die man mit Hoffnung füllt, verschenkte Zeit, weil man doch genauso gut eine Handlung in die Welt geben könnte, statt sich irgendeiner fetten Hoffnung an den dummen Arsch zu haften. Kluge Dinger, die Sekunden. Sie kleben aneinander und ticken den ganzen Tag das Leben kurz und klein. Auch ein scheiß Job, denkt sich Roy und fügt sich wieder der vorherrschenden Systematik mit den Schrauben, Tüten und Eimern.
    Irgendwann ist es fast Abend, Roy so müde von der Unterforderung und dem Sinnlosfinden seiner Beschäftigung, und der Werkstatttag neigt sich dem Ende entgegen. Schwachen wird in Jacken geholfen, viel Schwächeren werden die Schuhe gebunden, und alle strömen wie von einem unsichtbaren Menschenmagneten angezogen Richtung Ausgang der Werkstatt. Das Gemurmel, das Roy begleitet, wird immer lauter, die Menschen lautieren, schreien vor Freude, Müdigkeit oder Schmerz und rollen oder laufen Richtung Ausgang. Dort warten bereits zahlreiche Busse und Großraumtaxis auf die Werkstattarbeiter, und es regiert hier eine Lustigkeit, die Roy nicht mitfühlen kann. »Bis morgen«, spricht ihn einer von der Seite an, und er guckt nicht, wer es ist, sondern läuft weiter gerade aus, sein Denken frisst sein Fühlen, und gefressenes Denken und Fühlen vermeidet ausdrucksstarkes soziales Handeln. Roy geht auf einen Bus zu, jeden Tag steht da dieser Bus, und vorne ist die Tür geöffnet, und Kalle, der Busfahrer, guckt etwas mürrisch, hat aber für jeden Fahrgast ein Nicken im Nacken. Und so nickt der Nacken um die dreißig Mal, jeden Tag, nickt der Nacken als distanziertestes aller möglichen Begrüßungsrituale, und Kalles Gesicht sieht täglich mehr wie zerknüllte und stellenweise vollgeschissene Bettwäsche aus, und Roy fragt sich, wo Kalle das verloren hat, was mal sein Leben war.
    Der Bus ist voll und gefüllt mit Behinderung und Lautstärke. Einige schreien, einfach nur, weil Schreien auffällt und irgendwo immer einen Reiz auslöst. Irgendeiner bellt, eine andere hustet permanent und rhythmisch, aber es gibt auch Sitze, auf denen geschwiegen wird. Irgendwo setzt Roy sich dann hin. Vor ihm sitzt Johanna, die sich mittlerweile komplett von ihrem Anfall erholt zu haben scheint, denn sie tauscht sabbernde Küsse mit irgendeinem Spastiker aus. Der versucht sie mit einer verkrümmten Hand an der Brust zu berühren, und seine Zunge fliegt wie ein nasser Waschlappen durch Johannas Gesicht. Filigran und gezielt küssen ist hier nicht. Der Spastiker und Johanna legen an Tempo zu, was die Atmung bestätigt. Die Geräusche, die sie dabei machen, findet Roy sehr unangenehm. Sabberblasen befinden sich in allen Mundwinkeln, die Roy erkennen kann. Johanna hat unter ihrem Lederhelm eine sehr rote Gesichtsfarbe angenommen, und Roy will gar nicht wissen, wo sie mit ihren Händen fuhrwerkt und wo der Spasti diese gerade spürt. Speichelflüsse addieren sich zu einem Sabbercontest in weiß und gelb. Es schäumt in beiden Gesichtern. Das ist der Trieb, den Roy nicht sehen mag, dieses Animalische am Menschen ist ihm zuwider. Obwohl auch er genau weiß, was dieser Trieb kann.
    Roy schließt die Augen und denkt an die Rothaarige, an das wunderbare Mädchen, das er vor ein paar Tagen auf dem Supermarktparkplatz sah, und seine Phantasie beschämt ihn. Er denkt an primäre Geschlechtsteile und an Reibung. Roy reibt an den primären Geschlechtsteilen der

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