Trisomie so ich dir
tote Blicke durch die Raum, die so undurchdringbar wie Betonmauern sind. Wenn Ingeborg ihm die Haare anders kämmt, als er es sonst immer tat, fühlt sie sich kurzfristig ein bisschen schlecht, aber weil eine Resonanz ausbleibt, lässt sie es dann doch so, ein stiller Protest gegen die Abartigkeit einer Struktur, die beide gemeinsam in ihr Leben zementiert hatten. Ingeborg ist sich nicht mal sicher, wenn sie protestiert, wogegen sie überhaupt sein sollte. Das mit dem Kämmen passiert unbewusst, und sie wundert sich still darüber, und die stille Verwunderung macht sie irgendwie zufriedener als kurz zuvor.
Das letzte Mal, als Hermann etwas sagte, was nicht erwartbar, nicht standardisiert und irgendwie überraschend daher kam, war es: »Ingeborg, hast du mal hingeschnuppert, wie es riecht, wenn das Mädchen von oben durchs Treppenhaus läuft. Die riecht wie eine Frühlingswiese. Richtig schön, oder?« Es war eine Woche, bevor sein Kopf in die Suppe fiel, dass er diesen Satz von sich gab, und Ingeborg erkannte darin die Besonderheit des Mannes, für den sie das Gefühl hegte, dass sie für Liebe hielt. Sie konnte darauf nichts antworten, sie hatte diesen Geruch noch nie bemerkt.
Guck mal an, denkt Gott, das sind also die Leute, die an mich glauben. Privilegierte Bibeltreue. Das sind dann immer die Erstauntesten, wenn sie ins Nichts gedroppt werden. Diese leisen Greise voller Scheiße, dass sind die, die auch im Krieg in einer dieser muffigen Kirchen Zuflucht suchen und sich da vor fallenden Bomben sicher fühlen würden. Diese sich-um-den-Verstand-Beter, die, die denken, ihre antrainierte Spiritualität hätte einen Zielort. Diese Paradiesasylanten, die denken, dass man sich durch einen riesigen Berg Scheiße graben muss, um am Ende doch eine Art Belohnung dafür zu erhalten. Diese Irrlichter, die glauben, sie wären tolerant, tolerant, bis sie Andersgläubigen begegnen. Geht sterben. Da ist nichts. Und wenn’s geht, geht vor dem Sterben noch etwas leben.
Der Geistigbehinderte ist die Centwährung des Humankapitals
Roy sitzt in einem großen Raum mit hoher Decke und gibt Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer, beleuchtet von Neonlichtröhren, die, wenn man sie nur lange genug beobachtet, ab und an unrhythmisch flackern. Das ist so ein ganz unscheinbares Flackern, man muss die Leuchtstoffröhren lange genug fixieren, und irgendwann beginnen sie mit diesem Zucken. Draußen scheint die Sonne ein stilles, aber dominantes Gelb in die Umgebung, eines, dass an die FDP oder Eigelb erinnert, denkt Roy. Dieses Gelb strahlt draußen alles voll, und hier drin ist nur der Schein der Neonröhren und das Wirken am großen Leben unbeteiligter Leute.
In seinen plumpen Händen hält er eine kleine Plastiktüte und eine Schraube, und weil es so etwas wie ein Normalsierungsprinzip gibt, muss Roy die Schraube in die Tüte geben und dann noch eine und dann noch eine und noch ein paar weitere, und ein anderer Mann, der auch irgendwo hier im Raum sitzt, gibt dann noch eine handvoll Plastikringe hinein. Irgendjemand, den Roy nicht kennt, wird dann diese Tüte zuschweißen und zu anderen Tüten legen, die er verschweißt hat. Dann werden die Tüten zu anderen Leuten gefahren, die Holzteil-Bausätze für Schränke herstellen, und diese fügen die Tüten in die Verpackungen mit den Schrankteilen. Irgendwann wird dann irgendein Mensch in irgendeinen Laden gehen und sich einen Schrank ausgesucht haben, den in seinen Kleinwagen stopfen und nach Hause fahren. Dort angekommen wird er alle Teile auf den Parkettfußboden auslegen, und dann wird er beginnen, diesen Schrank aufzubauen und sich darüber freuen, dass die passende Anzahl Schrauben beiliegt. Wenn sie nicht beiliegt, wird er irgendwo schnell Schuldige suchen, seine Frau und seine Kinder anschreien, sich wünschen, nie geheiratet und Kinder gezeugt zu haben, den Schrank verfluchen, sein Leben verfluchen und unbedingt auf die schnellste und aber doch schmerzvollste Art sterben wollen. Roys Arbeit hat also eine gewisse Relevanz, aber eigentlich ist es eine Beschäftigungsmaßnahme in einer Werkstatt für geistig behinderte Menschen.
Roy gibt Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer und weiß: Es gibt den so genannten ersten Arbeitsmarkt, und es gibt das hier, diesen irreführenden Versuch, den Schrecken der Normalität zu imitieren. Ziel dieser Werkstatt für behinderte Menschen ist die Wiedereingliederung derer, die hier arbeiten, in den so genannten »ersten Arbeitsmarkt«, aber wenn
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