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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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dem Raum. Wenn Bettina es könnte, sie würde lächeln.
    Roy hat Durst. Die Zeit scheint zu vertrocknen. Sekunden zerfallen wie Staub im Raum, der auf die abgehängten Neonröhren fällt. Die Sekunden zerfallen unglücklich ob der Sinnlosigkeit ihres Vergehens. Viele von Roys automatisierten Handlungen laufen in die völlige Leere und er ist bei vollem Bewusstsein und sieht seine Lebenszeit zu einem Klumpen miefig riechender und abgestandener Fäulnis zusammenschrumpfen, und der Klumpen beginnt ein gammelartiges Stinken, und so einen Klumpen sein Leben nennen zu müssen und gleichzeitig Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer geben zu müssen, quält Roy. Diese Szenerie wirkt, als ob die über diesen Arbeitsraum geworfene Decke der Normalität genau das wäre, was hier ein jeder benötigt. Als ob es einer Schablone bedürfte, in die die einzelnen Mitarbeiter hineingepresst und zu funktionierenden Werkzeugen erzogen wurden. Die raue Oberfläche des Zeitvergehens verkrustet zusehends. Da, wo es noch Wünsche und Träume gibt, gibt es auch Medikamente dagegen. Uniformierte Arzneien bewachen Konformität. Und alle geben Schrauben in Tüten und Tüten in Eimer.
    Das ist die Qual dieser Tage: Draußen findet das Leben ohne einen statt, das satte, gelbe Leben, das sich durch die engen Gassen der Vor- und Nachmittage schlängelt und dann in Abenden und Nächten mündet, denen laut Roys Gedanken so viel Leben inne wohnt, dass man damit Schlachtfelder restaurieren könnte. Draußen ist also alles anders als hier drinnen, wo es Dinge zu verrichten gibt, die keinen, der sie verrichtet, etwas angehen. Niemand hier hat je einen fertigen Schrank gesehen, für den hier das Befestigungsmaterial eingetütet wird.
    Wäre er nur ein wenig sedierter, denkt Roy manchmal, nur ein wenig weltfremder und gefühlloser, dann würde diese Arbeit einfach nur vergehende Zeit sein, aber so ist sie vergehende Zeit, gefüllt mit fetter Sehnsucht nach der Erfüllung anderer Möglichkeiten. Die anderen Möglichkeiten halten sich alle draußen auf, finden nicht in dieser Drinnenwelt statt, in der es nur diese sinnfreien Betätigungen gibt.
    Von seiner in einer hinteren Ecke stattfindenden Position aus kann Roy erkennen, dass da viele diese Arbeit tun, einige mit Freude, andere unter Schmerzen, aber alle tun diese Arbeit, alle packen kleine Schrauben in kleine Tüten und werfen sie anschließend in kleine Eimer, die dann von Praktikanten weggetragen und in einen etwas größeren Eimer gegeben werden. Die Praktikanten sehen alle so aus, als ob sie nicht für die Arbeit geboren wären, sie sind auch eher für eine Freizeitgesellschaft geboren, die zwischen den Polen Flatratesaufen und dem gepflegten Abknallen von Monstern am PC stattfindet. Ständig sind sie übermüdet, und ihre behäbigen Schritte, die sie durch die Halle wagen, drücken alle die Tatsache aus, dass da viel zu langsame Geister in einer viel zu schnellen Welt unterwegs sind.
    Bestätigende Geräusche der beständigen Beschäftigung ist ein metallisches Klappern, das Zeugnis der Schrauben, die in einen Eimer geworfen werden. Die Gespräche sind hier sehr minimalisiert, Mitarbeiter der Werkstatt laufen durch die Reihen, versuchen, Arbeitsprozesse in verständnisresistente Gehirne hineinzuartikulieren, und manchmal quiekt wer oder lacht oder hustet durch den hohen Raum, und Roy langweilen die Menschen. Obschon die Menschen hier sehr besonders sind, ob ihrer ohnehin nicht gesellschaftlich anerkannten Arbeitsleistung. Deswegen sitzt man hier, in dieser »Werkstatt für behinderte Menschen«, wie es politisch korrekt ausgedrückt heißt. Roy langweilen diese Leute, weil er einer von ihnen ist, einer derer, die mit einer kuriosen Optik und einem verknappten Intellekt ausgestattet in diesen Räumlichkeiten ihren Pflichtbeitrag zur Gesellschaft leisten müssen. Man packt Schrauben in Tüten und wirft Tüten in Eimer. Das geht. Das funktioniert. Roy ist nach Rumbrüllen zumute, nach Artikulation seines Freiheitswunsches, die Schrauben quer durch den Raum, den Eimer hinterher und brüllen, bis die Stimme weg bricht. Aber was würde das bringen, er wäre nur einer von weiteren auffällig gewordenen Behinderten, einer, über den man dann Mutmaßungen anstellen würde, was ihn zu dieser obskuren Tat trieb, und man würde seine Behinderung und sein Sozialleben in den Fokus nehmen und die Dummheit und Bescheidenheit seiner Tätigkeit außer acht lassen. Außerdem mag Roy Schreien nicht, es ist wie

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