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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Stuhl auf, fühlte, dass er mit seinen Fußsohlen den Boden berührte, und eine große Dankbarkeit durchströmte ihn. Er sah in Don Philippes strenge Augen und sagte: »Und Thomas wartet draußen vor der Tür?«
    Don Philippe brach in Lachen aus und trank sein Weinglas mit einem einzigen Schluck leer. »Wo findet man so etwas in dieser Welt wie diesen Jungen!«, rief er aus. »Das Leben ist ein Spiel mit Regeln. Wenn es keine hat, ist es keins. Thomas ist draußen auf der Straße, du hast recht.«
    »Dann ist also auch Courvenal hier?« Tristan brachte die Frage leise und gedehnt hervor.
    Philippe brauchte nicht zu antworten, sondern lachte erheitert in sich hinein. Er winkte einer der Mägde, ließ einen weiteren Teller und ein Glas bringen und klatschte in die Hände.
    In der Rückwand ging eine schwere Tür auf und Courvenal betrat den Raum. Tristan fühlte sich bei dem Anblick seines Erziehers sowohl ertappt als auch erleichtert. Er lief jedoch Courvenal nicht wie früher entgegen, sondern begrüßte ihn mit einer kurzen Verbeugung und setzte sich wieder, als sei etwas ganz Selbstverständliches geschehen.
    Courvenal sagte nur: »Bald werde ich nicht mehr wissen, was ich dir noch beibringen kann«, und legte Tristan die Hand auf die Schulter, bevor er sich zu ihm setzte.
    Nun waren sie zu dritt. Tristan spürte, dass er aufgenommen war in das Leben der Erwachsenen. Er hatte gelernt, in der Unwahrheit die Wahrheit zu verstecken, in der Lüge den Konflikt zu vermeiden und in den Augen der Menschen zu lesen, was sie dachten. Täuschung sollte nur sein, um zum Guten zu führen. Was aber gut und böse war, das sollte immer nur von Menschen wie Courvenal und Don Philippe de Toledo entschieden werden. Darauf einigten sich die drei an diesem Nachmittag in einem großen steinernen Haus im Herzen Barcelonas. So unbeschwert und frei wie in dieser Gemeinschaft hatte sich Tristan bisher nie gefühlt. Philippe wurde sein Freund, der erste, den er hatte.
     
    Lex ~ 145 ~ Legis, Legende, Lesen
     
    Von diesem Nachmittag an begann für Tristan ein neues Leben. Courvenal entschied, dass er seine Kutte ablegen und Kleider wie alle anderen tragen sollte. Mit Philippe war vereinbart, dass in dessen Haus stets ein Zimmer für den Jungen bereitet war, während Courvenal weiterhin im Kloster blieb und dort seine Arbeit verrichtete, die hauptsächlich aus einer neuen Fassung der Benediktsregeln bestand. Der Prior gab ihm dafür gutes Geld.
    Don Philippe war eng verbunden mit dem Königshaus in Barcelona und auch mit dem Bischof. Er vermittelte bei Geldgeschäften mit den Juden, regelte Übergabezölle zwischen den ankommenden Handelsschiffen und den ansässigen Kaufleuten und hatte darüber hinaus eine Beschäftigung, die er, wie er Tristan mitteilte, nur für sich selbst pflegte: die lex generalis. Um dieses Rechtsbuch zu erarbeiten, an das sich - davon war er überzeugt - eines Tages sogar Könige und Kaiser »überall auf der Erde« halten würden, betrieb er in seinem Haus eine Art Schreibstube, in der ein halbes Dutzend Männer an Tischen saßen und nichts anderes taten, als Schriften zu kopieren, die Philippe ihnen vorlegte. Das waren oft nur Fetzen von Pergamentblättern, auf denen in verschiedenen Sprachen Mitschriften von Urteilen dokumentiert waren, die Grafen und Fürsten, Könige und Kaiser gefällt hatten.
    »Ich sammle all diese Urteile«, sagte Philippe, als er Tristan eines Tages die Abschriften in den Büchern vorlegte. »Und ich werde ein Kompendium schaffen, wie es die Welt zuvor noch nie gesehen hat.«
    Tristan wurde vom Eifer seines Wohltäters angesteckt, denn was da vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet wurde, war unvergleichlich gegenüber allem, was er bisher in Bibliotheken zu Gesicht bekommen hatte. Das waren meist Bibelkopien oder Übersetzungen aus dem Caesar, dem Piaton oder dem Aristoteles gewesen. Nun aber sah Tristan in Bücher, Originale wie Abschriften, in denen die Verfasser - meist waren es Mönche oder Schriftgelehrte einzelner Grafen und Fürsten - das Unrecht verewigt sehen wollten, um es den Nachfolgenden mahnend vor Augen zu stellen. Von solchen Fehden, Streitigkeiten und ungeklärten Besitzverhältnissen profitierte Philippe, indem er die Schriften, die meist zu Hunderten in den Archiven der Burgen und Schlösser verstaubten, auslöste und als Materialsammlung für sich gebrauchte.
    »Meine Vorstellung ist es«, sagte er zu Tristan, »alles, was die Menschen anderen Menschen an Bösem antun

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