Tropfen im Ozean
mich herum verrückt spielte. Ich sprach mit der Instanz in mir, bat sie, mir zu helfen und weil ich so gar keine Lösung hatte, begriff ich zum ersten Mal, was WOM mir damals versucht hatte, zu sagen: Ich musste in die Strömung kommen und dann loslassen. Musste vertrauen, dass alles gut ging. Das Richtige tun. Mein Kopf konnte nicht wissen, was das Richtige war. So viele Strategien konnte er gar nicht vorhersehen, um dann wie James Bond exakt zu reagieren. Ich konnte mich nur den Wellen des Ozeans überlassen, Tropfen, der ich war. Aber mit dem gesamten Ozean als Freund fühlte ich mich bedeutend sicherer. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass das Leben eigentlich so viel einfacher war. Es war ja nicht so, dass man die Verantwortung dafür aufgab oder keine Entscheidungen mehr traf, aber es war einfacher, sich nach den inneren Werten zu richten und sich davon führen zu lassen – es war weniger anstrengend als dauernd zu grübeln, zu zweifeln und Angst vor einem falschen Schritt zu haben. Vertrauen, obwohl nichts danach aussah. Nicht wissen, was am Ende rauskam. Ich wusste nicht, wie die Sache mit E!Liza und mit mir selbst enden würde. Aber ich wusste, dass ich bei ersterem ein reines Gewissen brauchte und bei letzterem Mut. Das waren meine Wegweiser. Mulmig war mir dennoch dabei und außerdem war ich noch weit davon entfernt, diese Stimme in mir jederzeit deutlich zu hören.
E!Liza und mich verband etwas, dessen war ich mir sicher. Sonst wäre sie nicht so zu meinem Thema geworden. Der weise Mann hatte mir erklärt, dass sich unser Innenleben in der Außenwelt spiegelte. Und da wurde mir klar, was mich an diesem brutalen Kuss Gustavs so aufgewühlt hatte: So hatte mir J immer den Mund gestopft. Ich hatte Dinge mit mir geschehen lassen. Aber ich war mir immer klein und minderwertig vorgekommen. Alles am sonstigen Verhalten E!Lizas sprach von Selbstbewusstsein... bis auf diese letzten Szenen. Also musste es etwas geben, was ihr Angst machte. Etwas, das sie zwang, den Mund zu halten.
WOM hatte gesagt: „Sei mutig“. Und das wollte ich sein.
***
Nächster Tag. Endlich.
Keine Nacht ohne Träume. Wieder war mein Verfolger hinter mir her gewesen, war ich vergeblich gerannt. Nacht für Nacht der gleiche Traum. Meine Mutter hält mich auf dem Arm. Sie drückt mich an sich. Ich vertraue ihr unendlich. Wie ist das zerstört worden? Diese unendliche Sicherheit, die ich in diesem Traum anfangs fühle... Mama kommt. Sie kommt. Sie kommt ganz sicher. Aber wer kommt ist der Verfolger. Ich renne und komme nicht vom Fleck. Die bleischweren Beine sinken in einen Grund, der mich nicht trägt, habe keine Gewalt über meine Muskeln, das Entsetzen lähmt sie, sie sind weich, unnütz, fühle das Grauen, dass er gleich da sein wird, gleich hat er mich, gleich hat er mich...
Aufwachen, Schreien, kalter Schweiß. In mir rumorte es. Ich wollte weinen und konnte nicht. Ich wollte wissen, was los war und hatte keine Ahnung. Ich spürte dieses Grollen, Aufbrechen in mir, einen Spalt in der Kruste über meinen Erinnerungen, die das Monster freiließen, das Monster, das mich damals schon anfallen wollte, damals , als ich ausgerissen bin vor J und meinem Leben.
Es war Viertel nach drei Uhr morgens. Zehn Minuten Zeit, bevor ich gehen musste, und ich wollte sie nutzen, um ruhiger zu werden. Ich setzte mich auf den Boden und begann, mich auf den Atem zu konzentrieren. Doch sowie ich das tat, ging es erst recht los. Mein Körper fing an, sich zu schütteln und Panik drang von unten nach oben, schob sich hoch, immer weiter und weiter... entsetzt sprang ich auf, setzte mich ins Auto, fuhr los.
Endlich. Endlich. Der Wald. Die Tür.
Ich sehnte mich nach der Stille bei ihm. Die mächtige Stille, die er in sich trug, die er ausstrahlte, die alles sofort runterfuhr, jedweden Aufruhr in mir. In seiner Daunenjacke stand er an der Tür und ließ mich ein. Ich umarmte ihn ganz fest und wie an dem Tag, als er mir den Tropfen Öl zwischen die Augenbrauen gerieben hatte, hielt er mich auch heute länger als gewöhnlich.
Ein Kloß schob sich in meinen Hals, ein Kloß der Vorahnung und ich spürte wieder Angst. Aber sie war nicht vergleichbar mit dem, was ich in den letzten Nächten erlebt hatte. Sie war gezähmter, hier bei ihm. Wie ein Tier, das seinen Meister kennt und zurückscheut.
In der Stille des dunklen und kalten Morgens gingen wir den üblichen Weg. Sand und Kies knirschte unter unseren Füßen, unsere Schritte ergaben einen
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