Tropfen im Ozean
wahnsinnig viel, was Elisabeth und ihrer Familie damals um die Ohren flog. Aber dieses Ausmaß an Belastung war uns Lehrern nicht klar. Wir bekamen die Julias Schwierigkeiten mit und ein bisschen Gemunkel, dass die Geschäfte ihres Vaters schlecht liefen.
Doch dann... dann kam dieses Volleyballturnier, in dem Lisa nur Scheiße baute, sie hat einen Ball nach dem anderen verpatzt und wir verloren das Turnier wegen ihrer Fehler. Die Mädchen haben sie angeschrien, sie waren zutiefst frustriert über ihr Versagen – wir hätten damals aufsteigen können, aber Lisa... Lisa hat es vergeigt und alle... alle ließen das an ihr aus... Das war der Tropfen zu viel. Diesen Tag und die darauffolgende Woche werde ich nie in meinem Leben vergessen. Die anderen Mädchen waren nach Hause gegangen – ich löschte gerade die Lichter, da fand ich sie. Sie lag in der Mädchentoilette, zusammengekauert, tränenüberströmt und in einer Verzweiflung, die mir Angst machte. Sie war zusammengebrochen, hatte sich übergeben, sie lag so seltsam erstarrt, so leblos am Boden, dass ich zuerst dachte, sie hätte sich was angetan... aber sie war schlicht und ergreifend am Ende. Ich hab mich neben sie gehockt ... hab sie in den Arm genommen... und das war das Schlimmste. In diesem Moment schrie sie auf, hat sich an mich geklammert und geweint, geweint, geweint...“
Meine Kiefer pressten sich aufeinander, das Wasser stand mir in den Augen. Herr Krug erlebte das ganze Elend erneut, stak in dieser Emotion so tief drin, dass er mich ohne weiteres mit hineinriss.
„Gott, was hat das Mädchen geweint“, murmelte er und sein Atem ging flach. „Was hat dieses Mädchen geweint. Dieser ganze Druck, diese irre Belastung... ich hatte keine Ahnung, was sie mitgemacht hatte... keine Ahnung, wie sie es geschafft hat, ein Einser-Abitur zu schreiben. Keine Ahnung. Nicht die geringste... erst an diesem Abend hab ich das Ausmaß des ganzen Dramas erfahren“. Stumm starrte er vor sich hin.
„Sie hat mir alles erzählt und sich dann tausend Mal bedankt. Hat mir das Versprechen abgenommen, es niemandem zu sagen, auch nicht meiner Frau. Hab mich bis heute daran gehalten“.
„Was ist mit Julia passiert?“ flüsterte ich heiser. „Wo ist sie jetzt? Wie ist es ihr ergangen?“
Herr Krug seufzte tief. „Julia...“ gequält sah er mich an. Gebannt hing ich an diesem Gesicht, hing ich an dieser Geschichte. Fahrig strich er sich mit der Hand über die Augen, seine Unterlippe zitterte.
„Man sollte meinen“, sagte er leise, „... es wäre genug... aber es war noch nicht zu Ende... es war noch nicht zu Ende... Lisa schrieb in dieser Woche Englisch-Abitur und noch ein Fach, ich erinnere mich nicht mehr... sie hatte zwei Prüfungen und sie ließ nicht locker. Nach dem Ausbruch ging es ihr besser und ich sagte ihr, sie könne mich jederzeit anrufen, wenn sie Hilfe brauche. Jederzeit. Mir war das Mädchen ans Herz gewachsen. Ich bewunderte sie. Es gibt so viele Jugendliche, leider, deren Elternhaus eine Katastrophe ist... und so viele haben keine Kraft, dagegen anzuschwimmen... haben keine Ideale... woher auch... wer will ihnen das verübeln? Aber Lisa... Lisa hat ihre Bücher genommen und gelernt. Ich war einigermaßen beruhigt, als ich sah, dass sie beherrscht in die Englisch-Prüfung ging und sie mit Bravour absolvierte. Doch dann... dann bekam ich einen Anruf von ihr. Mitten in der Nacht. Sie war außer sich, entfesselt, unkontrolliert... etwas, was ich von ihr nicht kannte. Sie war ... in einer absoluten Panik ... konnte nicht mehr klar denken. Sie schrie, sie brauche Hilfe. Sofort. Ich solle kommen... sofort... sie brüllte ins Telefon und ich sprang ins Auto und war innerhalb von ein paar Minuten bei ihr. Sie stand unten am Bürgersteig, riss die Autotür auf, als das Auto noch fuhr, und schnellte geradezu auf den Sitz. Sie sagte, sie hätte einen Sprachnachricht von Julia und sie spielte sie mir vor.“
Er kratzte sich am Kinn, sah nach unten, sah auf mich, dann aus dem Fenster. Seine Stimme wankte: „Es waren Hilferufe. Echte Hilferufe. Julia schrie wie ein abgestochenes Schwein....sie schrie vor Schmerz. Sie schrie um Hilfe. Sie schrie, wie ich noch nie einen Menschen schreien gehört habe“.
Entsetzt starrte ich ihn an.
„Lisa brüllte mich an: ‚Ich weiß nicht, wo sie ist! Ich weiß nicht, wo sie ist! Ich kann sie nicht erreichen!’“
Ich startete den Motor und raste zur Polizei. Ich fuhr so schnell, dass mich ein Streifenwagen
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