Tropfen im Ozean
verfolgte... der staunte nicht schlecht, dass ich ausgerechnet dahin fuhr, wo er mich wohl hatte hinbringen wollen. Wir spielten der Polizei das Band vor, sie orteten das Handy von Julia, wir fanden sie relativ schnell... und doch... es war zu spät. Es war zu spät“.
Die Arme auf den Knien beugte er sich vor, sein Kopf sackte nach unten und Tränen platschten auf das grüne Linoleum. Ein deutliches, überakzentuiertes Geräusch. Ich saß wie eingefroren vor ihm. Fühlte meinen Atem. Fühlte Druck auf der Brust. In den Augen. In der Kehle. Dann hob Krug den Kopf. Seine Stimme war heiser, kaum hörbar. Bei manchen Worten musste er mehrmals ansetzen, weil er Schwierigkeiten hatte, zu reden:
„Sie haben Julia verstümmelt. Sie war... verstümmelt. Das schöne Mädchen... vergewaltigt, verbrannt, verprügelt und misshandelt. Ihr einstmals so wunderschönes Gesicht... ein blutiger Brei, ihr Körper eine einzige Wunde“.
Ich schloss meine starren Augen und Wasser stürzte unter den Lidern hervor. Stumm weinte ich, hoffte, dass Krug nichts weiter hinzufügen, dass diese Tragödie endlich ein Ende finden würde. Er brauchte lange, um sich zu fangen. Wieder und wischte er sich über die Wangen. Schnäuzte sich, unfähig, weiter zu reden.
„Julia wurde notoperiert. Sie lag monatelang in Krankenhäusern. Lisa rannte sich die Hacken ab wegen plastischer Operationen. Einen Teil wollte die Krankenkasse übernehmen, aber den größeren Teil eben nicht...“ er biss sich auf die Lippen. „Dazwischen absolvierte Elisabeth ihr Colloquium und das Geschäft ihres Vaters brach offiziell zusammen“.
Krugs Blick ging zu mir. Sein Gesicht war voller Trauer, die Augen dunkel vor Leid.
„Es gab für Elisabeth keine Möglichkeit zu studieren. Ihre Eltern waren am Boden, sie erschienen noch nicht einmal zur Abiturientenverabschiedung. Lisa kam als einzige der 113 Abiturienten alleine. Sie ging auf die Bühne, holte ihr Zeugnis und verschwand. Ich wollte ihr nachgehen, aber sie lief weg. Danach rief ich sie an und fragte sie, was sie tun wolle. Da sagte sie mir, sie habe vor, den Schuldenberg ihres Vaters abzutragen. Sie würde alles dafür tun, die Sache mit Julia nicht publik werden zu lassen... ihre Mutter würde das nie aushalten. Aber bei all dem... bei all dem... hat nie auch nur einer danach gefragt, wie Lisa das alles aushielt. Sie bewahrte eine Contenance, die mir Angst machte“.
„Angst?“
„Ja... vor einem erneuten Zusammenbruch. Man kann die Dinge nicht so lange und ohne jeden Rückhalt in sich reinfressen. Und... Lisas Strategie... ihre Strategie war gewagt. Die Schulden ihres Vaters zurückzuzahlen... damit sollte sich ein junger Mensch nicht belasten. Aber Tatsache war: Ihr Vater hatte die Krankenversicherung nicht bezahlt. Das war... äußerst kontraproduktiv... und Julia war seelisch wie körperlich ein Wrack... sie brauchte permanente Betreuung und so kamen sie überein, dass die Eltern die Pflege übernehmen sollten, während Elisabeth alles andere regelte. Sie redete mit Ärzten, Psychologen, mit allen, die ihr kompetent genug waren und überredete so manchen, Julia umsonst zu behandeln. Sie glaubte immer dran, dass ihre Schwester irgendwann wieder ein normales Leben führen würde. Am Anfang dachte ich: „Wenn Hänsler genug Arsch in der Hose gehabt hätte, hätte er die Verantwortung für sein Scheitern übernommen und es nicht seinem Kind aufgebürdet“. Aber... er hat Lisas Vorschlag akzeptiert... heute denke ich, man muss es verstehen... das war alles so massiv... der Zusammenbruch des Geschäfts, die Tochter aufs Brutalste misshandelt und ein Pflegefall, seine Frau krank... und obendrein Versagensgefühle... das ist hart“.
„Ja“, flüsterte ich. „Weiß Gott - das ist hart“.
Krug putzte sich die Nase, lugte kurz zur Kamera hoch und schaute dann wieder zu Boden.
„Wo ist Julia jetzt?“ fragte ich.
„Mal in einer Klinik, mal zuhause. Je nachdem, was sie an Therapien bekommt und in Anspruch nehmen kann. Lisa will ihr wieder ein Gesicht geben – im wahrsten Sinne des Wortes... aber ich habe Julia seitdem nie mehr gesehen“.
Ich schluckte. Das alles war so heftig, so immens, dass mir meine eigenen Erlebnisse daneben lächerlich vorkamen.
„Hat man die Täter gefasst?“
„Ja, hat man. Sie haben wohl ein paar Jahre bekommen“.
„Und darüber wurde nicht berichtet? Eigentlich müsste das doch in den Lokalblättern eine Riesenschlagzeile gegeben haben“.
„Elisabeth hat dafür
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