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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Verlangen abzuwaschen. Ich versuchte zu vergessen, dass ich gerade Geschlechtsverkehr gehabt und dafür Geld genommen hatte. Ich versuchte … was? Ich hatte natürlich Angst – obwohl ich vermutlich wusste, dass ich die Männer vom Project Starlight vorläufig abgeschüttelt hatte. Was sonst? Ich war traurig, weil ich wusste, dass ich Adam nie wiedersehen würde. Aber ich bin so an Traurigkeit und Enttäuschung gewöhnt, dass ich sie nicht mal mehr registriere.
    Welche Bahn nehme ich also?
    Der Bahnsteig für »Traurigkeit« ist Nummer 1225. Der Bahnsteig für »Ekel« ist Nummer 69. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in einen Traurigkeitszug oder einen Ekelzug einsteigen will. Was ist mit Schmerz? Aber ich hatte eigentlich keine Schmerzen.
    Ich denke an die Augenblicke, in denen mir der Zugang zum Bewusstsein anderer offenstand. Bei Molly war es der Moment – der Stich –, als sie an Hugh dachte und an die Qual, die es bedeutete, durch die ganze Stadt gehen und ihn suchen zu müssen. Bei Maxine war es leicht: Sie machte sich die ganze Zeit darüber Sorgen, dick zu sein und zu stinken. Und ich glaube, jetzt verstehe ich das mit der »Schutzlosigkeit der Welt der Geister« gegenüber. Wenn jemand ein starkes Gefühl hat, öffnet sich etwas in seinem Bewusstsein, nur ein kleiner Spalt, und im Moment dieses Fühlens verbindet sich sein Bewusstsein mit dem aller andern, die das Gleiche empfinden. Oder vielleicht verstehe ich es doch nicht. Eigentlich kommt es mir, so formuliert, ein bisschen fadenscheinig vor. Als Idee hat sie nicht die begriffliche Strenge von Derrida oder Heidegger. Nun gut. Ich denke angestrengter nach, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Zimmer irgendetwas sehr Eindeutiges empfunden habe. Aber … Moment mal. Es spielt bestimmt keine Rolle, wie weit zurück ich gehe, solange ich einen Moment anvisiere, bevor ich in die Troposphäre eintrat. Wann habe ich demnach das letzte starke Gefühl empfunden? Was ist mit der Angst, die ich empfand, als ich vom Priorat wegfuhr? Das Übelkeitsgefühl, als ich darauf wartete, dass der schwarze Wagen aus einer Seitenstraße geschliddert kam und meine Verfolgung aufnahm. Ich schaue wieder auf die Abfahrtstafel. Angst: Bahnsteig 7. Ich begreife nicht, wie das funktionieren soll, aber ich werde es einfach versuchen.
    Ich beginne den langen Marsch durch den endlosen Betontunnel und beachte die Schilder zu den Bahnsteigen 31, 57 und 99 nicht. Hier herrscht keine Ordnung. Irgendwann finde ich ihn: Bahnsteig 7. Ich gehe eine Aluminiumtreppe hinunter und stelle fest, dass der Zug schon dort steht. Es ist ein altes verrostetes Ding, das mich an die ältesten und scheußlichsten Züge der Londoner Northern Line erinnert. Ist es nicht ein kleiner Glücksfall, dass der Zug schon da ist? Aber von hier unten kann ich alle anderen Bahnsteige sehen, und auf jedem steht ein Zug. Genau wie die Bildschirme oben nahelegten – es gibt hier keine Züge, die ankommen, nur solche, die abfahren. Und dann begreife ich, dass der Zug »in Wirklichkeit« gar nicht hier ist. Er ist nur eine Metapher – wie alles andere hier auch. Ich drehe den angelaufenen silbernen Griff und ziehe die Tür in meine Richtung. Was auch die Metapher sein mag – und wie diese Erfahrung auch »in Wirklichkeit« aussehen mag –, es gibt keinen Zweifel, dass ich jetzt ins Innere der Angst selbst einsteige.
     

Kapitel zweiundzwanzig
     
    Bis jetzt sieht die Angst jedoch wie das Innere eines alten Londoner U-Bahn-Zugs aus. Die Sitze sind mit schäbigem grünen Samtvelours bezogen, darauf ein orangefarbenes Muster. Auf dem Boden klebt eine derart dicke Schmutzschicht, dass der richtige Boden abfallen könnte, ohne dass es jemand merken würde. Die einzelnen Wagen sind durch quietschende Kupplungen miteinander verbunden. Als ich Platz nehme, ertönt ein Pfiff. Der Zug setzt sich in Bewegung. Langsam kriecht er quietschend bis zum Ende des Bahnsteigs, und dann fahren wir plötzlich mit einer Geschwindigkeit von rund vierhundertfünfzig Stundenkilometern durch einen langen Tunnel und anschließend durch eine Landschaft, die ich nicht erkenne. Absurderweise denke ich: Das muss ein Zug der Circle Line sein, weil wir schon oberirdisch unterwegs sind. Dann begreife ich, was für einen Unsinn ich da denke, und höre damit auf.
    Mir gefällt diese Landschaft nicht. Sie gefällt mir ganz und gar nicht. Das sirupartige Gefühl, das ich in der Troposphäre habe, ist jetzt verschwunden, und ich bin nicht nur

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